Du musst das Monster treffen

Theater & Tanz

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Denn sie wissen nicht, was sie tun. Und das ist gut so. Die Zuger Improtheater-Gruppe Hotel 99 probt das spontane Erfinden von guten Geschichten.

  • Hotel 99 beim Improvisieren (Bild: Philippe Hubler)
    Hotel 99 beim Improvisieren (Bild: Philippe Hubler)

Zug (Kanton) – Dieser Artikel ist in der April-Ausgabe (#48) des Zug Kultur Magazins erschienen (als PDF herunterladen).

Szenen einüben und Text auswendig lernen sind Dinge, die im Improtheater etwa soviel nützen wie ein Metro-Fahrplan in der Sahara. Wo es kein Netz gibt, gibt’s auch kein sicheres Ziel. 
Improvisiertes Theater entsteht im Moment. Die Schauspieler gehen auf die Bühne, nehmen Stichworte vom Publikum entgegen und spielen, was auch immer daraus entsteht. Und genau das macht Improtheater zum Extremsport unter den Bühnenkünsten.

Die erste Regel: Such nicht nach Sicherheiten
Beim Improtheater gibt es beinahe keine Regeln, und es ist ein echtes Tabu, welche aufzustellen. Genau das werden wir nun aber tun.
Erstens, weils Spass macht, und zweitens, weil man sonst etwas ratlos vor dem Abgrund steht. Denn Improtheater ist wie Bungee-Springen. Ein Sprung über die Klippe. Das sagt einer, der es wissen muss. Die Zuger Improtheater-Gruppe Hotel 99 trifft sich zur Probe. Es ist eine bunte Truppe, die sich am Abend in einem Quartiertreff in Zürich verabredet, um einen Auftritt einzuüben, den es noch gar nicht gibt.

Vor einem Jahr hat der Zuger Kulturschaffende Walter «Willy» Willimann die Gruppe gegründet. Seitdem tritt Hotel 99 regelmässig in der Industrie 45 in Zug auf. Die I45 ist damit nicht nur zum Basislager der Gruppe geworden, sondern auch zu einem kleinen Zuger Zentrum für Improtheater. Aber wie probt man überhaupt einen Auftritt, bei dem nicht einmal die Schauspieler wissen, was passieren wird?

Die zweite Regel: Hör zu
Mathias Zocher hat die Leitung für die heutige Probe übernommen. Er ist grossgewachsen, trägt Bart und spricht ausserhalb seiner Rollen sehr überlegt. Dann allerdings übernimmt das Theater – und das Denken ist abgeschafft.
Die erste Übung: Geschichten stricken. Alle stehen im Kreis. Jemand stellt einen imaginären χ Gegenstand in die Mitte, einen Honigtopf. Dann geht es los. Mathias Zocher beginnt und sagt, die Augen auf den überquellenden Topf gerichtet: «Weil hier ein Topf mit Honig steht, steht daneben eine Bank mit Brot.»

Viola Lutz steigt mit ein und fährt mit den Händen der Holzkante der Bank entlang. «Und weil hier eine Bank mit Brot steht, kommt Paul und streicht sich ein tropfendes Honigbrot.» Dann zeigt Willy Willimann unter die Bank. «Und weil der Honig auf den Boden tropft, kommen ganz viele Ameisen und essen den Honig.» Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Sie wird auf einer Speisekarte enden, als neues Fünf-Sterne-Gericht: Pauls Speichel (weil er sich so über den Honig freut) gemischt mit Ameisen. Das sind Dinge, die nur in Gruppen entstehen können, wenn keiner sagen darf: «Iäks, Sabber, nein, nein, das ist eklig, das darf nicht sein.»

«Wir proben keine Szenen. Wir proben Geschichtenerzählen und Tools, die beim Auftritt nützlich sind», sagt Willimann und fügt an: «Improtheater ist ein bisschen wie Bungee-Springen.» Man wirft sich von der Klippe in die Geschichte rein. Und wird dabei manchmal von sich selber überrascht. Und davon, was dabei herauskommt.

Die dritte Regel: Sag Ja.
Das Schlimmste, was einer Improszene geschehen kann, sei ein «Nein». Walter Willimann: «Man nennt das Blocken. Es scheint ein Reflex zu sein, erst mal Nein zu sagen. Den trainieren wir uns für die Bühne ab.» Als Beispiel ein Dialog: «Hey, gehen wir ins Kino?» «Nein.» Ende der Szene.
Wenn man hingegen «Ja» sagt, entstehe eine unglaublich positive Stimmung, und die Ideen purzeln wie von selbst aus dem Mund: «Hey, gehen wir ins Kino?» «Boa, geil, wir schauen Saw 3» «Ich liebe Horrorfilme!» «Ich liebe es, wenn sie die Beine abhacken!» «Am liebsten mag ich es, wenn sie den Kopf auch noch abhacken, dann spritzt das Blut!» «Und ich war mal in einem Kino, in dem sie von der Leinwand noch Blut runtergespritzt haben.» «Ja und ich hatte einmal sogar noch eine Blutkonserve in der Hand und konnte damit Leute bespritzen.»

Die vierte Regel: Scheitere grossartig
Scheitern gehört dazu. Mathias Zocher: «Es gibt so Momente, in denen man sich selber überrascht.» Und Walter Willimann ergänzt: «Improtheater hat auch, zumindest am Anfang, absolut keinen Leistungsgedanken dahinter. Du hast einfach nur Spass an dem, was du gerade machst.»

Totaler Fokus auf den Moment. Ismeta Curkic meint: «Ich glaube durch die Überforderung, im Moment reagieren zu müssen, kommt man aus dem Denken raus. Und wenn du aus dem Denken rauskommst, dann entspannst du dich.» Mathias Zocher nickt: «Improtheater ist Yoga für Leute, die gerne reden. Und das bisschen Unperfekte ist Teil der Kunstform.»

Die fünfte Regel: Triff das Monster.
Wir planen und reden im Alltag alle ein bisschen zu viel, findet Willimann. Irgendwann muss man das Monster treffen, alles andere ist langweilig. Als Beispiel ein Banküberfall.
Der eine: «Knacken wir den Tresor.» Der andere: «Ja, ich leg’ das Dynamit.» «Oh, und jetzt tickt es.» «Ja, ich bin ganz aufgeregt.» «Zehn, neun, acht, sieben ...»

Zum Teufel damit, sprengt endlich den blöden Tresor! Langes Drumrumreden ist öde. Aber wieso passiert das so oft? Weil wir uns vor dem Inhalt des Tresors fürchten, meint Mathias Zocher. Weil da eben das metaphorische «Monster» drinsitzt. «Solange man darüber diskutiert, wie man den Tresor öffnet, so lange ist man sicher. Wenn ich den Tresor aufmache, dann muss ich definieren, was drin ist.» Genau das ist der Bungee-Sprung von der Klippe.

Die sechste Regel: Es gibt keine Regeln
Willimann ist in Zug kein Unbekannter, hat als Kulturschaffender und Moderator, als Hotelier und Kunstmanager schon fast jede Bühne im Kanton von oben gesehen. Das Improtheater ist eine alte Liebe. Nachdem Willimann schon vor einigen Jahren bei einer Improtheater-Gruppe mitmachte, trieb es ihn immer weiter weg davon. «Das war etwa 2007 bis 2012», sagt er. Dann kamen verschiedene, irgendwie verwandte Performance-Formen mit ihm auf die Bühne. Doch vor einem Jahr hat es ihn wieder gepackt. «Ich habe wiedermal einen Kurs besucht und gemerkt: Das muss ich wieder tun.»  Es ist die richtige Zeit dafür.

In der Deutschschweiz ist es in den letzten Jahren zu einer regelrechten Explosion an Improgruppen gekommen. Wo es früher, vor zehn oder zwanzig Jahren, noch ungefähr sieben oder acht Gruppen gegeben habe, erzählt Willimann, da seien heute dreissig oder vierzig. «Ich glaube, es ist ein Bedürfnis der Leute. Der Schweizer ist ein sehr sicherheitsbezogener Mensch. Improtheater ist das ultimative Risiko, aber man muss dafür nicht von einem Berg runterspringen.» (Lionel Hausheer)