Klebriger Aufkleber

Literatur & Gesellschaft

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Gewisse Fahrzeuge wollen uns mit ihren Aufklebern etwas mitteilen. Judith
Stadlin geht der Sache in ihrem Beitrag auf die Spur. Auf allen Ebenen.

  • Judith Stadlin stellt die grossen Fragen zum kleinen Aufkleber. (Bild: Nora Nussbaumer)
    Judith Stadlin stellt die grossen Fragen zum kleinen Aufkleber. (Bild: Nora Nussbaumer)
Zug (Kanton) – Dieser Beitrag von Judith Stadlin ist in unserer Dezember-Ausgabe erschienen. Hier geht es zu den anderen Beiträgen.

Mit dem Glauben ist es so eine Sache. Ich finde ja, an etwas zu glauben ist gut. Ich bin nicht einmal davon überzeugt, dass Wissen immer besser ist als Glauben. Aber manchmal reicht ein Glauben allein nicht aus, um gesund und am Leben zu bleiben.
Ich denke an den Weihbischof des Bistums Chur und seine naive und unelegante Aussage, die Angst, sich via Weihwasser und geweihte Hostie mit dem Coronavirus anzustecken, zeuge von mangelndem Gottvertrauen. Sie erinnern sich vielleicht: Dieser Weihbischof wollte zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühling 2020 als Schutz gegen das Virus nicht auf die Gebote der Vernunft und auf medizinisches Wissen bauen, sondern allein auf das Vertrauen zu Gott. Er wollte weiterhin fröhlich Weihwasser verspritzen und geweihte Hostien mit blossen Händen auf fremde Zungen legen. Immerhin wusch er sich wahrscheinlich vorher die Hände … – wohl mit Weihwasser.
Laut Altem Testament wurden Seuchen, die das Volk Israels trafen und für die dieses den Grund nicht kannte, gerne als Strafe Gottes interpretiert. Ja, klar, gerne interpretieren wir im Nachhinein Schlimmes, das uns widerfährt, als doch irgendwie Sinnvolles. Wir basteln uns aus Schicksalsschlägen etwas, was von einer höheren Macht im Grunde gut gemeint war. So fällt es uns leichter, es zu akzeptieren. Wir bilden uns einen Patriarchengott ganz nach Fernsehart: Hart – aber fair.
Ich halte es eher mit Friedrich Schiller: «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!», das lässt Schiller seinen Wilhelm Tell sagen. Ich finde, Glauben sollte besser nicht fundamental der Vernunft widersprechen. Die Vernunft darf uns trotz Glauben zu sinnvollen Handlungen anstiften! Etwa beim Autofahren.

Wie ich darauf komme?
Kürzlich las ich auf dem Heck eines Autos, das uns auf der Säuliamt-Autobahn im grausigen Höllentempo überholte, diesen irritierenden einen Satz:
«Jesus is my airbag.»
Jesses Gott!, dachte ich, hoffentlich ist dieser Spruch nicht ernst gemeint, sondern humorig.  Ich meine nicht humorvoll, sondern humorig. Pseudolustig im Sinne von sauglatt, wie etwa flache Stammtischwitze, die nichts als das dümmliche Quickie-Reflexlachen suchen. Sauglatt. Und meist saudoof.
Wenn er es jetzt aber doch ernst meint, der Autoraser ...?
«Jesus is my airbag» ... Der Satz liess mich nicht mehr los. Er hatte sich in meinem Kopf eingenistet wie ein Ohrwurm, der Satz blieb in meinem Hirn kleben und drängte mich, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich konnte einfach nicht anders, als mir hin und her zu überlegen, was das eigentlich bedeutet, was ich da gelesen hatte.
Ich überlegte und stellte fest, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, warum der eigenartige Satz auf einem Autoheck steht. Falls es dem Autofahrer mit den Aufkleber ernst ist, könnte es so sein:

1. Der Automobilist ist ein Pantheist
Pantheisten glauben, alles sei eine Form von Gott. So sieht dieser Autoraser Gott in allem, in einer blühenden Rose genauso wie in einem Papiertaschentuch. Folglich sieht er Gott auch in seinem Airbag. Dies will er allen mitteilen.
Der Aufkleber wäre demnach sein persönliches Glaubensbekenntnis.

2. Vielleicht meint der Fahrer den Spruch aber wörtlich
Denn er hat vorne in sein Auto anstelle eines Airbags ein Neues Testament einbauen lassen. In extraweiches Leder gebunden. Dieses spingt bei einem Unfall heraus und dämpft den Aufprall ab. Der Aufkleber wäre somit Werbung – für den extra weichen Ledereinband.

3. Oder der Mann ist vielleicht Realist
Er will mit dem Aufkleber «Jesus ist my airbag» allen mitteilen, dass auf dem in seinem Auto serienmässig eingebauten Airbag ein Name steht. Und dieser Name lautet Jesus. So wie andere praktische Dinge Fusselwunder oder Kalkstop heissen oder Kanalengel. So gesehen wäre Jesus tatsächlich sein Airbag, denn sein Airbag heisst Jesus. Der Fahrer findet diese Tatsache so lustig, dass es unbedingt jeder wissen muss, der hinter ihm herfährt.

4. Oder Atheist?
Eine vierte Möglichkeit, «Jesus ist my airbag» zu verstehen, ist die: Der Autofahrer glaubt nicht an Gott.
Er glaubt auch nicht an Jesus. Stattdessen glaubt er an seinen Airbag. Und zwar so, wie andere an Jesus glauben. Er meint im Grunde: «My airbag is my Jesus.» Weil er ein totaler Autofan ist. Und gläubiger Anhänger (ha, wahrscheinlich mit Anhängerkupplung!) der Autoreligion.
Seine Religion besteht aus heiliger Dreifaltigkeit mit Motor als Gottvater, Airbag als Sohn und – ja: Gaspedal als Heiliger Geist, und er betet: «Airbag unser im Auto … Dein Wille geschehe wie im Auto, so auch draussen auf der Strasse … Unser tägliches Vollgas gib uns heute, und vergib uns unsere Temposünden, wie auch wir vergeben denen, die leider noch schneller fahren als wir …
Darum der Aufkleber «Jesus is my airbag». Bloss: Wollten wir es wirklich so genau wissen?

5. Airbag vollbringt Wunder
«Jesus ist my airbag» könnte natürlich auch bedeuten, dass der Autofahrer dem Airbag ebenso Grossartiges zutraut, wie er es Jesus zutraut. Etwa, dass sein Airbag Wunder vollbringen kann! Auf dem Wasser nicht untergehen! Wasser in Benzin verwandeln! Tote auferwecken – mit Vorteil Verkehrstote!
Der Spruch «Jesus is my airbag» wäre also als psychologische Massnahme gedacht, es soll die anderen Automobilist*innen beruhigen.
Der Aufkleber wäre dann immerhin gut gemeint …

6. Airbag = Jesus
Eine weitere Möglichkeit, «Jesus ist my airbag»  zu interpretieren, geht folgendermassen. Der begeisterte Autofahrer, der uns auf der Säuliamt-Autobahn überholt hat, stellt sich Jesu Erscheinung und Wesen genauso vor wie einen Airbag. Airbag und Jesus, beide sind in seiner Vorstellung weiss gewandet, beide kommen in einer Wolke daher, beide erscheinen allmächtig, beide bleiben im normalen Alltag angenehm diskret. Beide sind hilfsbereit, meistens unsichtbar und doch im Notfall blitzartig und hundertprozentig für einen da.
Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten verwechselt der Autobesitzer Jesus mit dem Airbag in seinem Auto.
Doch warum der Aufkleber? Nun, in seiner Verwirrung hat er das Heck seines Autos mit seinem Tagebuch verwechselt, wo man seine geheimen Gedanken reinschreibt.

All das ist möglich
Vielleicht war der Raser auf der Säuliamt-Autobahn aber einfach ein hirnloser Sprücheklopfer, der dreist drauflos rast, weil er überzeugt ist, dass ihm, einem echten Helden, nichts Schlimmes zustossen kann. Wie es den anderen Verkehrsteilnehmenden ergeht, ist im wurst. Hauptsache, er hat seinen Spass. Und im Notfall seinen Airbag. Und leider seinen platten Humor.

PS: «Jesus is my airbag» ... Wüsste ich, wer der Fahrer mit diesem Aufkleber war, so könnte ich ihn fragen, wie der Spruch auf dem Heck seines Wagens gemeint ist. Leider erinnere ich mich nicht an die Autonummer, nicht mal an die Automarke. Nur an den Aufkleber mit dem Spruch «Jesus is my airbag».
Wenn ich dem Auto nächstes Mal begegne, frage ich nach – falls der Fahrer dann noch am Leben ist. Und falls nicht, dann hat es mit grösster Wahrscheinlichkeit nichts mit Madame Corona zu tun.

(Text: Judith Stadlin)

Zur Autorin: Judith Stadlin ist ausgebildete Schauspielerin, Tanzfachfrau und Germanistin. Sie arbeitet für die Bühne, fürs Radio (D und CH), als Schriftstellerin, Regisseurin, Kabarettistin, Sprecherin, als Choreografin und Dozentin.
Die Live-Literatin ist Teil des Kabarettduos Satz & Pfeffer sowie Co-Leiterin der gleichnamigen Lesebühne in Zug. Sie hat diverse Auszeichnungen in D, A und der CH erhalten. Zurzeit ist sie unterwegs mit ihrem neuen Buch und ihrem Bühnenprogramm «Häschtääg zunderobsi».
www.judithstadlin.ch