Zeitungspapier plus Fantasie

Literatur & Gesellschaft

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Severin Hofer hat seinen Alltag in Zeitungspapier getaucht. Und mit seinen ­Videos aus der Zeitungswelt jede Menge Kinder begeistert. Nun ist daraus ein Buch entstanden. Und was für eins.

  • Herr Stämpfli wird in seiner Zeitungswelt kreativ. (Illustration: Rafael Casaulta)
    Herr Stämpfli wird in seiner Zeitungswelt kreativ. (Illustration: Rafael Casaulta)
  • Severin Hofer und Rafael Casaulta freuen sich über ihr Buch. (Bild: Martin Riesen)
    Severin Hofer und Rafael Casaulta freuen sich über ihr Buch. (Bild: Martin Riesen)
Zug – Dieser Text ist in der März-Ausgabe (#87) des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Wenn plötzlich alles stillsteht, gibt es manchmal ganz unerwartet frische Luft für etwas Neues. Als das öffentliche Leben im ersten Lockdown den Atem anhielt, hat Severin Hofer die Chance gepackt und sich in seiner Wohnung eine Oase geschaffen. Eine Oase aus Zeitungspapier.

Herr Stämpfli taucht ein
Aber von vorne: Der Zuger Künstler und Kindergartenlehrer stand vor der Herausforderung, Kindergarten online zu gestalten. Stattdessen wurde er zur Kunstfigur. Über Nacht.
Etwa so: Als Severin Hofer eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in Herrn Stämpfli verwandelt. Die Verwandlung war hartnäckig. Sie schwappte auf die Wohnung über, tauchte Bett und Wand und Schrank und Hut und überhaupt alles in Hofers Wohnung, inklusive Pflanze, in Zeitungspapier. Und Herr Stämpfli, der kam aus dem neugierigen Staunen gar nicht mehr heraus.
Hofer drehte Video um Video aus seiner Zeitungswohnung, entdeckte neue Zeitungsdinge, die da gewachsen waren, und um die er sich als Herr Stämpfli nun fröhlich erstaunt kümmern konnte. Während draussen die Welt stillstand, war Hofer in seiner Wohnung damit beschäftigt, das Licht einzurichten, mit den Zeitungen Geschichten zu erfinden, Videos zu drehen, und Mitmenschen für Posaunensolos als Hintergrundmusik zu motivieren.

Anleitung? Nicht nötig
Und die Kinder? Die waren begeistert. Im wahrsten Sinn der Wortes: Die Ideen sprangen über. «Die Kinder brauchen keine Anleitung, um selber kreativ zu werden», sagt Hofer. So schwappte die Zeitungswelt bis in die Zimmer der Kinder: Manche Kinder bauten sich zuhause aus Zeitung Brillen, Kleider, Regenschirme und Regentropfen, bauten Pools, um in der Zeitung baden zu gehen und spielten Szenen aus den Videos nach. «Ich habe insgesamt 18 Videos gedreht», sagt Hofer, «und mich jedes Mal total da reingegeben, ich tauchte tief in diese Welt
ein – ich habe ja auch in dieser Zeitungswohnung gewohnt.» Er ergänzt lachend: «Mein Umfeld hat sich vielleicht zeitweise etwas um mich gesorgt.» Dabei ging es ihm blendend.
Und wie das so ist mit guten Ideen, die mit fast fanatischem Engagement umgesetzt werden, kam damit etwas Grosses ins Rollen. Die Videos landeten zuerst auf der Lernplattform der Kindergartenkinder, dann bei anderen Kindergartenlehrer:innen, dann auf Youtube. Die Idee war so ansteckend, dass sich Hofer plötzlich als Herr Stämpfli an Videokonferenzen von Kindergartenklassen in Zürich wiederfand, und die Kinder kannten ihn bereits – «das ist doch der Zeitungsmann.»

Nicht niedlich, keine klassische Moral
Dann hat die Idee Anlauf geholt zu einem grossen Sprung. Und ist losgeflogen: Raus aus den Videos, rein in die Köpfe von Verlagsmenschen, Druckern, vor allem rein in den Kopf von Rafael Casaulta. Der Illustrator sitzt gerade zusammen mit Hofer gut gelaunt beim gemeinsamen Kaffee. Gut gelaunt weil: Ihr Buch ist da. Ein Kinderbuch. Aber keines wie die anderen. Eines mit offenem Ende. Und mit Herrn Stämpfli. Es ist für beide etwas völlig Neues: Hofer hat zwar mit dem Duo Hoffnung+Kiwi schon einige Werke umgesetzt und Stunts geleistet, die Aufmerksamkeit erregten, und Rafael Casaulta, ist ebenfalls in Zug als Musiker, Künstler und Grafiker ein bekanntes Gesicht. Aber beide haben noch nie ein Kinderbuch gestaltet – und schon gar nicht so eins. «Nicht niedlich sollte es werden», sagt Casaulta, «es sollte auch keine klassische Moral beinhalten.» «Obwohl es in gewisser Weise schon eine Moral hat», ergänzt Hofer: «Tu etwas, gestalte deine Umgebung.»

Testläufe mit dem Kamishibai
Aber vor allem bietet das Buch jede Menge Inspiration. Und zwar für alle Beteiligten, die künftigen Erzählerinnen und Erzähler, und die Zuhörenden. Es ist eine Geschichte über das Ausbrechen aus fixen Vorstellungen geworden, über den Wagemut, sich neugierig auf etwas Neues einzulassen, auch wenn innere Stimmen kritisch dagegen wettern.
Monatelang feilten die beiden an jeder Szene. Casaulta zeichnete, Hofer führte die Zeichnungen probeweise seinen Kindergartenkindern vor, mit einem japanischen Papiertheater, dem Kamishibai. Das ist ein Kasten mit Öffnung vorne, in das sich Bilder einlegen lassen. Damit lassen sich mit den Bildern Geschichten erzählen, indem man jeweils die vorderste Zeichnung aus dem Kasten herauszieht, damit die nächste sichtbar wird. Das Kamishibai hat in Japan Tausend Jahre Tradition, und bis zur Erfindung des Fernsehers zogen damit Geschichtenerzähler durch die Dörfer. Hofer machte dasselbe in den Kindergärten. Die Kinder hörten und sahen Stämpflis Abenteuer so in vielen Versionen, und Hofer erlebte hautnah, ob die Illustrationen funktionieren – oder auch nicht. «In anfänglichen Versionen löste sich Herr Stämpfli vor lauter Staunen in einem Wirbelwind aus Zeitungen auf – dabei flogen Augen und Ohren durch die Luft», sagt Hofer und lacht, «die Kinder fanden das ganz schrecklich, und ich und Rafael hatten ein kurzes Telefon.» Casaulta lacht und ergänzt: «Das war mir überhaupt nicht klar, dass das für die Kinder so wirken könnte. Zum Glück hatten wir so direktes Feedback.»

Kein Wunder sieht der aus wie Hofer
Die Geschichte wurde immer konkreter, der Text immer kürzer, die Bilder immer klarer. Hofer immer geübter im Erzählen. Das Buch ist eines, dass man zusammen mit Herrn Stämpfli erleben kann. «Wenn ich die Geschichte erzähle, haben die Kinder unter ihren Sitzen bereits etwas Zeitungspapier gefunden. Dann begleiten wir die Geschichte zusammen. Zum Beispiel, ­indem wir mit dem Papier rascheln», sagt Hofer und setzt seine Erzählerstimme auf, flüstert leise zum zauberhaften Lebendigwerden des Zeitungspapiers, nimmt uns mit in Herrn Stämpflis Zimmer, und es ist kein Wunder, dass der so aussieht wie Hofer, denn die Verwandlung damals im ersten Lockdown, die war so gründlich, dass Hofer nicht nur in den Videos zu Herrn Stämpfli geworden ist, sondern mit Haut und Haar und Zeitungspapiertopf auf dem Kopf.

Zu Papier geworden ist auch Hofers Erspartes. «Ich wollte, dass das ganze Buch in der Schweiz gedruckt wird», sagt er und freut sich sehr darüber, dass das geklappt hat. «Ich wollte im Quai Pasa dem Drucker Nino begegnen können und in Zürich den Buchbindern über den Weg laufen, ich wollte, dass das etwas von hier ist, was hier entstanden und realisiert wurde.» Und nun ist es da, und ist eine absolute Ausnahme im Kinderbuchhandel: Zu hundert Prozent in der Schweiz produziert, ein Buch mit offenem Schluss, nicht niedlich, stattdessen voller Inspiration.
Um was es darin geht? Nun, Herr Stämpfli möchte wie jeden Samstag sein Zeitungspapier bündeln. Nur: Die Bündelschnur ist zu kurz. Und dann raschelt es aufs Mal. Und auf Herrn Stämpflis Kopf, da erscheint etwas. Etwas aus Zeitungspapier. Was das wohl sein könnte?

(Text: Falco Meyer)



Zum Buch:
Das Buch «Herr Stämpfli – am Samstag ist Zeitungsbündeltag» erscheint im März 2022 bei Baeschlin. Es ist ab dem 18. März im Handel erhältlich.
Informationen zum Buch finden sich ab dem 1. März unter www.herrstaempfli.ch und beim Baeschlin Verlag unter www.baeschlin.ch
Die Buchvernissage wird am Donnerstag, 24. März im Kinderbuchladen Zürich gefeiert. Am Mittwoch, 13. April, findet eine interaktive Lesung für Kinder im Bücher Balmer Zug statt. Am 1. Juni gibt es eine interaktive Lesung für Kinder im Elefant in Baar. Zudem findet am 4. Juni eine interaktive Lesung für Kinder an der Kunstpause Zug statt. (fam)