Erinnerung an ein grosses Unglück

Kunst & Baukultur

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Nur Gewalt vermag die Himmelsrichtungen durcheinanderzubringen. Bei Anton Egloffs Bronzeplastik auf dem Rigiplatz ist genau das passiert.

  • Anton Egloffs Bronzeplastik sieht einer umgekippten Glocke ähnlich. (Bild Stefan Kaiser)
    Anton Egloffs Bronzeplastik sieht einer umgekippten Glocke ähnlich. (Bild Stefan Kaiser)

Zug – Hat da ein Senn seinen etwas zu gross geratenen Alpsegen-Trichter liegen lassen? Oder was macht dieses glockenförmige, wie wahllos hingeworfene Ding da auf dem Rasen des Rigiplatzes? Und was ist es überhaupt? Beim Herantreten an das Objekt ist davor auf einem kleinen Metallrondell das Wort «Hören» zu lesen. Es bezieht sich auf die fragliche Skulptur im südlichen Teil des Spielplatzgeländes.

Sie ist eines von insgesamt vier Kunstobjekten, welche hier im Zuge der Neugestaltung des Rigiplatzes zwischen 1991 und 1995 installiert wurden. Der Rigiplatz war ursprünglich im Nachgang zum verheerenden Seeufereinbruch anno 1887 angelegt worden, weil hier eine Neubebauung dadurch unmöglich geworden war. Die erwähnte Neugestaltung wurde anlässlich der Feierlichkeiten zu 700 Jahre Eidgenossenschaft 1991 in Angriff genommen.

Gedenken an die Vorstadtkatastrophe

Mit Carmen Perrin, Andrea Wolfensberger, Flavio Paolucci und Anton Egloff waren vier Kunstschaffende auserkoren worden, den neu gestalteten Platz mit Skulpturen zu besetzen, welche mit der Katastrophe von 1887 und den Erinnerungen daran in Beziehung treten sollen. Von Letztgenanntem stammt die Skulptur «Hören», um welche es hier gehen soll.

Beim Beitrag des gebürtigen Aargauer und heute in Luzern lebenden Künstlers Anton Egloff (*1933) handelt es sich um eine Art auf der Seite liegende Glocke aus Bronze. Sie ist einen Meter lang, die Öffnung hat einen Durchmesser von 85 Zentimetern. Die geschlossene Haube ist abgerundet, die Öffnung zur Mitte des Platzes hin gerichtet.

Im Inneren der «Glocke» sind vier Bronze-«Flecken» auszumachen, welche die Gleichmässigkeit des Objekts durchbrechen – als wären sie beim Entstehungsprozess planlos auf die Innenwand gegossen worden. Auf jedem dieser Flecken ist eine Himmelsrichtung vermerkt, alle vier jedoch sind genau der entgegengesetzten Richtung entsprechend angeordnet.

Die volle Bezeichnung von Egloffs Bronzeplastik lautet «Hören Ost Süd West Nord». Das Thema Himmelsrichtung steht für Anton Egloff eng im Zusammenhang mit der Weite des Raumes.

Ein erweitertes Verständnis von Raum

Ein Aspekt, mit dem sich der Künstler in seinem Schaffen immer wieder auseinandersetzt. Und diesen Raum versteht er nicht nur als potenziell messbares Gebilde, sondern ebenso als eine Dimension für Gedanken und Perspektiven. Um das Raumgefühl nicht zu stören, sind Egloffs Skulpturen meist nicht auf einem Sockel fixiert, sondern wirken wie lose hingesetzt. Dadurch will er die Unmittelbarkeit zwischen Kunstwerk und dem es umgebenden Raum hervorheben.

Die Plastik auf dem Rigiplatz steht symbolisch für den Einklang von Raum und Zeit, nimmt in diesem Fall jedoch zusätzlich einen konkreten Bezug – namentlich auf die Echolotmessungen, welche später im Bereich des Seeufereinbruches durchgeführt worden sind, um Ursache und Folgen des Unglücks zu erforschen.

Einladung zur Neuorientierung?

Mit seiner raum- und platzbezogenen Skulptur hat Egloff der Glocke ihre eigentliche Funktion genommen, denn umgekippt und ohne Klöppel liegt sie «defekt» da, als wäre sie von einem heftigen Sturm über dem See hier angeschwemmt worden. Ihr Wolm schallt nicht mehr, sondern ist nun wie ein Ohr, das aufmerksam auf die Mitte des Platzes ausgerichtet ist.

Die bewusste «Falschanordnung» der Himmelsrichtungen im Inneren der Bronzeplastik mahnt zum einen an die Naturgewalt, die alles aus den Bahnen zu werfen imstande und gegenüber welcher der Mensch machtlos ist. Zum anderen sollen Betrachtende angeregt werden, sich selbst zu orientieren, sich vielleicht neu auszurichten, innerlich Ordnung zu schaffen.

Die Bronzeplastik «Hören Ost Süd West Nord» auf dem Rigiplatz lädt nicht nur zur Auseinandersetzung mit ihrer Symbolik, sondern ist so konzipiert, dass sie sich als Bestandteil dieses Ortes, wo Klein und Gross für eine Auszeit oder zum Spielen hinkommt, auch haptisch erfahren lässt. (Text von Andreas Faessler)

Hinweis

In der Serie «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fund­stücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.