Eine Million Übernachtungen in Walchwil

Literatur & Gesellschaft, Brauchtum & Geschichte

,

Von 1912 bis 1996 existierte abseits des Dorfes ein Erholungsheim für Frauen sowie für Feriengäste. Der Historiker Urspeter Schelbert beleuchtet die fast vergessene Erfolgsgeschichte dieser Institution in einem neuen Buch.

  • Das Elisabethenheim in Walchwil auf einer Luftaufnahme vom Sommer 1947. (Bild Werner Friedli/ETH-Bibliothek)
    Das Elisabethenheim in Walchwil auf einer Luftaufnahme vom Sommer 1947. (Bild Werner Friedli/ETH-Bibliothek)

Walchwil – Der neue Trakt des Zentrums Elisabeth in Walchwil, das sich vorwiegend an Betroffene von multipler Sklerose und anderen chronischen Krankheiten wendet, ist seit längerem belebt. Seine Einweihung sollte im Frühjahr stattfinden – die Coronapandemie brachte schliesslich auch diesen Zeitplan durcheinander. So wurde dieser Akt erst kürzlich durchgeführt.

Dazu gehörte die Vorstellung des Buchs «De Walchwiler Obergade» von Urspeter Schelbert, das sich der Geschichte des Vorgängerbetriebs des Zentrums Elisabeth widmet. Das vom Katholischen Mädchenschutzverein Luzern gegründete und von den Menzinger Schwestern geführte Elisabethenheim bestand von 1912 bis 1996 im Gebiet Obergaden, auf das sich der Buchtitel bezieht. Das Heim diente zunächst «arbeitsunfähigen und erholungsbedürftigen Dienstboten, Arbeiterinnen und Ladentöchtern» als Auffangort. Später wurden dort auch Haushaltslehrtöchter ausgebildet. Überdies stand das Erholungsheim, das schnell über eine eigene Kapelle und ein Priesterhaus verfügte, und das mehrfach erweitert wurde, Feriengästen offen.

Für den freischaffenden Historiker Urspeter Schelbert (68) aus Walchwil brachten die Recherchen zum Buch einige Überraschungen mit sich. Schon die Grundidee eines Erholungsheims für ledige Frauen zu dieser Zeit habe zuvor ausserhalb seiner Vorstellungskraft gelegen – ganz zu schweigen von der Nachfrage nach Kurplätzen. In den 84 Jahren seines Bestehens wurden im Elisabethenheim über 75000 Gäste und über eine Million Übernachtungen verzeichnet. «Als ich die Übernachtungszahlen sah, fiel mir die Kinnlade herunter», schildert Schelbert seine Reaktion anschaulich.

Alt Gemeinderat verlässt Walchwil für immer

Das Buch umreisst auch die wechselvolle Geschichte der ehemaligen Grundeigentümer im Obergaden. Im Jahr 1912 verkaufte der erst 48-jährige Josef Hürlimann seinen Hof nach wenigen Verhandlungstagen dem Katholischen Mädchenschutzverein Luzern und verliess die Gemeinde für immer. «Damit war dieser Hürlimann-Familienstamm nach 300 Jahren aus Walchwil verschwunden», sagt Urspeter Schelbert. Der Stammbaum ist im Buch aufgeführt.

Das ist umso bemerkenswerter, als dass Josef Hürlimann offenbar ein an Einfluss und Geld reicher Mann war. Im Jahr seines Wegzugs war er noch Gemeinderat und Kantonsrat und überdies während 14Jahren Gemeindepräsident gewesen (1889 bis 1902). In diese Zeit fiel der Bau der Eisenbahnlinie. Offenbar setzte sich Josef Hürlimann, der mit einer Artherin verheiratet war, für den heutigen Streckenverlauf oben im Dorf ein. Die Arther hätten es lieber gesehen, wenn die Strecke am See entlang, also dem heutigen Strassenverlauf entsprechend, gebaut worden wäre. Denn in diesem Fall hätte der Bahnhof bequemer gelegen als schliesslich in Goldau. Auch in Walchwil herrschte gemäss Schelberts Recherchen Unmut gegenüber Josef Hürlimann. Er sagt: «Es gab rivalisierende Familienclans und gegenseitige Intrigen.» Hatte Hürlimann irgendwann genug von den Anfeindungen? Urspeter Schelbert kann anhand der Quellen den Grund für den Wegzug nicht nachvollziehen. Der Historiker hat lediglich herausgefunden, wie es mit Josef Hürlimann weiterging. Er liess sich zunächst in Merlischachen nieder und verbrachte seinen Lebensabend mit seiner Frau schliesslich in Cham – am anderen Ende es Zugersees also.

Legendäre Persönlichkeiten leben auf

Urspeter Schelbert, der unter anderen auch zwei Bücher über die Geschichte der Pfarrei Unterägeri verfasst hat und lange im Staatsarchiv Zug tätig war, arbeitete rund ein Jahr an seinem jüngsten Werk. Es handelt sich um eine Auftragsarbeit. Die bekannten Walchwiler Peter Rust senior und Fridolin Jeggli schenkten das Buch dem Zentrum Elisabeth, wie das einstige Heim heute heisst, anlässlich der kürzlich stattgefundenen Einweihung des neusten Trakts.

Beide sind auch im Vorstand des Trägervereins. Rust hat zudem das Vorwort im Buch verfasst und lässt darin einige Originale des Elisabethenheims aufleben, die älteren Walchwilern noch bekannt sein dürften. So etwa Chatzestrick Hännel, der mit seiner lauten, dreirädrigen Motosacoche Transporte vom Dorf zum Elisabethenheim durchführte. Oder Maria-Magdalena Bindschädler alias S’Marily, die für die Botengänge ins Dorf zuständig war und 1984 im Alter von 88 Jahren im Heim starb. Zu dieser Zeit waren die Übernachtungszahlen bereits abnehmend und auch die Rekrutierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde immer schwieriger. Ende März 1996 verliessen die letzten Menzinger Schwestern den Obergaden, auf dem anschliessend das Zentrum Elisabeth seinen Anfang nahm.

Dem Leben von «Marily» ist eine Seite im Buch gewidmet. Es sind liebevolle Beiträge wie dieser, die das Buch kurzweilig machen. Gleiches gilt für das luftige Layout sowie Urspeter Schelberts Schreibstil, der dem Leser häufig ein Augenzwinkern vermittelt. Etwa, wenn es um allzu Menschliches beim Zusammentreffen jugendlicher Haushaltslehrtöchter und der männlichen Dorfjugend geht.

Zudem ist der Nostalgiewert dank zahlreicher Illustrationen– wie alter Postkarten und Zeitungsinseraten – nicht nur für Walchwiler hoch. (Raphael Biermayr)

Hinweis
Das Buch ist für 35 Franken am Empfang des Zentrums Elisabeth beziehbar.