«Da lief die Fantasiemaschine heiss»

Literatur & Gesellschaft

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Thomas Hürlimann ist Zugs berühmtester Schriftsteller. Nach seiner schweren Operation spricht der 63-Jährige über Leben und Tod, über Heimatgefühle und sein Schreiben.

  • Arbeitet nach seiner Krankheit an einem neuen Roman: Thomas Hürlimann.  (Bild Stefan Kaiser)
    Arbeitet nach seiner Krankheit an einem neuen Roman: Thomas Hürlimann. (Bild Stefan Kaiser)

Zug – Wie gehts Ihnen, Herr Hürlimann?

Thomas Hürlimann: Gut.

Sie haben eine schwere Krankheit hinter sich. Kann man sagen, Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen oder wäre das zu dramatisch?

Hürlimann: Das ist etwas zu dramatisch. Es handelte sich um einen zu spät erkannten Prostatakrebs, aber ich habe Operation und Bestrahlung gut überstanden.

Beflügelt so ein existenzielles Erlebnis die Schaffenskraft oder ist man einfach froh, überlebt zu haben? Ihr Bruder ist ja bereits mit 20 an Krebs gestorben.

Hürlimann: Ich war in einer ganz anderen Situation als er. Ich konnte mir immer sagen, ich habe mein Leben gelebt. Das war ein grosser Trost für mich. Grausam ist es, vor dem Leben zu sterben.

Haben Sie den Tod gespürt?

Hürlimann: Ja, wie soll ich das sagen. Man geht zum Arzt und fühlt sich vollkommen gesund. Da sagt der Arzt: Wir haben jetzt ein schweres Gespräch, der PSA-Wert ist sehr schlecht. Zuerst war es völlig still. Dann hörte ich die Uhr, und auf einmal wurde ihr Ticken immer lauter. In solchen Momenten verdichtet sich die Existenz. Das habe ich alles sehr genau in Erinnerung. Als ich nach der Operation auf das Ergebnis der Gewebeuntersuchung warten musste, lief die Fantasiemaschine heiss.

Sie sagen, die Fantasiemaschine ist heiss gelaufen. Können wir nun auch einen neuen Roman von Ihnen erwarten?

Hürlimann: Ich war ja mittendrin und wurde aus dieser Arbeit herausgerissen. Das ist gar nicht so schlecht, weil man dadurch eine gewisse Distanz gewinnt. Andererseits ist man nach so einer Erfahrung ein anderer. Da ist es schwierig, sich einfach wieder hinzusetzen. Ich war mitten in einem Satz, als ich vor der Operation aufgehört habe zu schreiben. Ich hätte ihn danach nur noch fertig schreiben müssen. Ich habe aber dann beschlossen, ihn zu streichen. Dann sagte ich mir, ich streiche das ganze KapiTel. Am Ende habe ich beschlossen, ich fange das ganze Buch neu an.

Ist so etwas nicht frustrierend?

Hürlimann: Nein, nein. Man darf nicht vergessen: Tolstoj etwa hat «Anna Karenina» sieben oder acht Mal geschrieben. Man schreibt ein Buch, eine Seite ja nicht einmal, sondern mehrere Male. Je besser man die Personen und die Handlung kennt, desto schöner wird die Schreibarbeit. Ich bin froh, nun genau zu wissen, wie das Buch anfängt und aufhört.

Können Sie uns schon verraten, um was es in Ihrem neuen Roman geht?

Hürlimann: Nein, das tue ich nicht. Ich würde Sie dann wie ein Sperber anschauen, um zu erspähen, was Sie vom Thema halten. Dieser Gefahr möchte ich mich lieber nicht aussetzen (lacht).

In vielen Ihrer Bücher spielen Familie, Beziehungen, Liebe und Tod eine grosse Rolle. Sind das die existenziellen Dauerbrenner in unserem Leben?

Hürlimann: Der Autor wählt nicht den Stoff, der Stoff wählt den Autor. Ich erzähle die Geschichten, aus denen ich komme, aus denen ich bestehe.

Es bleibt in Ihren Büchern letztlich immer ambivalent, ob die Familie für Sie ein Gefängnis ist oder eine Zelle der Geborgenheit. Oder eben beides wie bei den meisten von uns.

Hürlimann: Beides. Ja, die Familie ist beides. Karl Kraus hat gesagt, das Wort «Familienbande» sei wörtlich zu nehmen (lacht). Auf der einen Seite ist es eine Bande, und es ist ja gut, zu einer Bande zu gehören. Das macht einen lebenstüchtig. Auf der anderen Seite gibt es natürlich immer Momente, in denen man davon träumt, ungebunden zu sein.

Etwa woanders zu leben. In den Klappentexten Ihrer Bücher steht ja noch immer: Thomas Hürlimann lebt in Berlin. Sie wohnen aber nun ja auch wieder in Walchwil. Kann man sagen, Sie sind in Ihre Heimat zurückgekehrt?

Hürlimann: Meine Behandlung am Unispital Zürich dauerte 14 Monate. Ich brauchte eine Wohnung in der Schweiz und bin meinen Cousins, Christoph und Tobias Hürlimann, unendlich dankbar, dass sie mir in dieser Notsituation sofort geholfen haben erst noch als Mäzene. Sie stellen mir in Walchwil eine Wohnung zur Verfügung. So bin ich in die Heimat meines Vaters zurückgekehrt – mit Hilfe der Familienbande! Andererseits geniesse ich es, in Berlin zu wohnen. Wenn ich im Zug zurückreise, schaue ich immer, dass ich bei Einbruch der Dämmerung dort ankomme. Mir gefallen die Lichter der Grossstadt. Dann bringe ich den Koffer in meine Wohnung und gehe noch in die eine oder andere Bar. Genauso ein schöner Moment war es aber, als ich das letzte Mal in Zürich eingetroffen bin. Es war ein Samstagabend, und die Glocken haben geläutet. Da habe ich gedacht: Jetzt kommst du nach Hause.

Da waren Sie aber erst in Zürich. Zu welcher Tageszeit kommen Sie in Zug oder Walchwil an?

Hürlimann: Ich habe meine Rituale. In Berlin sehne ich mich nach der Bratwurst am Bellevue, dazu ein Bürli und eine Stange dazu. Das ist die erste Station meines Heimwegs. Dann nähere ich mich langsam Zug an oder Walchwil, meistens mit dem späten Bus. Die zweite wichtige Station erlebe ich am anderen Morgen, wenn ich aus dem Fenster schaue. Dann liegt der See vor mir. Ihn vermisse ich in Berlin am meisten.

Was lieben Sie eigentlich an Ihrer Heimat Zug?

Hürlimann: Das ist eine schwierige Frage. Wahrscheinlich den See. Wenn ich im Ausland bin, taucht er stets in meinen Träumen auf. Er ist wohl die wahre Heimat. Das zweite ist der Nebel. Als Bub fand ich es immer spannend, wenn sich die Menschen in Schatten und Schemen aufgelöst haben.

Ist es also das Heimweh, warum Sie schreiben?

Hürlimann: Zum Teil sicher, ja. Wenn ich den Zugersee beschreiben will, gelingt mir das in Berlin besser. Da schreibt das Heimweh mit. Aber genau kann ich Ihnen den Grund nicht angeben. So wie ein Mondsüchtiger mondsüchtig ist und sich gezwungen sieht, den Mond anzuschauen, so schreibe ich Texte. Ich habe das 14 Jahre lang ohne jede Öffentlichkeit betrieben, und ich würde das auch weiter so machen. Es geht in Richtung Sucht. So lange ich schreibe, fühle ich mich auf jeden Fall wohl. Wenn ich längere Zeit nicht schreibe, werde ich nervös und miesepetrig. Plötzlich sagen die Leute um mich herum: Jetzt schreibt er wieder, jetzt wird er friedlich und ist eigentlich ein netter Zeitgenosse. Ich kann auf diese Weise etwas ausleben, was in mir steckt. Meine Mutter hat mir mal erzählt, als kleines Kind hätte ich Blätter vollgekritzelt. Sie sollte es mir dann «vorlesen», und ich war sehr enttäuscht, als sie sagte: Das sind keine Buchstaben, keine Wörter, das kann ich nicht lesen.

Sie erwähnen Ihre Mutter, über die Sie ja einen Roman geschrieben haben: «Vierzig Rosen». Ihr Vater als Bundesrat hat die Hauptrolle im «Grossen Kater» inne. Interessieren Sie sich für Politik?

Hürlimann: Ja, ja. Meine Geschwister und ich sind damit aufgewachsen, und das hat eine gewisse Rolle gespielt. Eigenartig war: Die Anwaltskanzlei meines Vater war für uns Kinder völlig tabu. Wir durften nicht wissen, was für Klienten kamen. In der Politik war das völlig anders es ist ja auch eine öffentliche Tätigkeit.

Haben Sie am 9. Februar bei der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP nicht einen Schreck gekriegt?

Hürlimann: Nein. Ich habe erwartet, dass es so kommen wird. Das geht auf eine Erfahrung meines Vaters zurück. Der hat immer gesagt, wenn alle Parteien und alle Zeitungen einer Meinung sind, dann sind das die Stunden, da die Demokratie ihr Gesicht zeigt. Wobei es zwei Gesichter sind, die sie hat. Wenn jetzt die Bundesräte klagen, dass das Volk sich nicht so benimmt, wie sie das gerne möchten, dann kann ich nur lachen. Dann müssen sie eben vorher etwas tun, damit wir Stimmbürger uns richtig verhalten.

Aber reden wir doch mal Klartext, Herr Hürlimann. Hat das Schweizer Volk bei dieser Abstimmung nicht eine gefährliche Schwelle überschritten?

Hürlimann: Ja. Ich bin nach wie vor gegen einen EU-Beitritt, aber bei dieser Abstimmung habe ich Nein gestimmt. Aus zwei Gründen: Die Schweiz hat Verträge mit der EU und sollte ein verlässlicher Partner bleiben. Zudem leben wir im globalen Raum, siehe Internet, und die grosse Völkerwanderung lässt sich nur dann stoppen, wenn sich die erste Welt wieder auf ihre eigene Kultur besinnt. Verbote nützen wenig. Wir müssen uns bewusst werden, wer wir sind und wie wir wurden, was wir sind.

Noch eine leichte Frage zum Schluss welches Buch haben Sie derzeit auf dem Nachttisch liegen?

Hürlimann: Ich bin ein Vielleser. Je später die Nacht, desto leichter die Lektüre. Jetzt lese ich gerade ein Tagebuch von Julien Green. Das habe ich antiquarisch erworben. Daneben ich habe meistens zehn Bücher gleichzeitig auf dem Nachttisch – verschlinge ich den neuen Roman von Martin Mosebach «Das Blutbuchenfest» mit Begeisterung und auch mit einem gewissen Neid. Und dann lese ich zum dritten Mal «Der Mörder in mir» von Jim Thomp­son. Sehr empfehlenswert. Ich träume davon, so ein Buch schreiben zu können. (Interview Wolfgang Holz)

 

Zur Person

Thomas Hürlimann. Der gebürtige Zuger ist Sohn des ehemaligen Bundesrats Hans Hürlimann. Seine Mutter Marie-Theres Duft entstammt der gleichnamigen St. Galler CVP-Dynastie. Hürlimann studierte nach der Matura Philosophie in Zürich und Berlin. 1974 brach er sein Studium ab und wurde freier Schriftsteller in Berlin. Zu seinen berühmtesten Büchern zählen «Das Gartenhaus», «Fräulein Stark», «Vierzig Rosen» und «Der grosse Kater». Letzterer, ein Roman über seinen Vater als Bundesrat, wurde verfilmt. Für sein Schaffen erhielt Hürlimann zahlreiche Preise und Auszeichnungen.