Ein lebendiges Kulturgut

Musik

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Ein sattelfester Insider stellte in nachvollziehbarer Manier Wesen, Gehalt und Bedeutung des Gregorianischen Chorals vor – praktische Ausübung inklusive.

  • Philipp Emanuel Gietl, Kirchenmusiker zu St.Michael und Chorleiter zu St. Johannes (Bild PD)
    Philipp Emanuel Gietl, Kirchenmusiker zu St.Michael und Chorleiter zu St. Johannes (Bild PD)

Zug – Dank der Initiative der Kolingesellschaft Zug gelangte ein motiviertes Auditorium in den Genuss einer fundierten Präsentation mit Philipp Emanuel Gietl, Kirchenmusiker zu St. Michael und Chorleiter zu St. Johannes.

Obendrein unterrichtet er unter anderem Gregorianik an der Hochschule Luzern – Musik und schlägt mit leidenschaftlicher Hingabe an den Choral umweglos die Hörerschaft in seinen Bann! Und zwar schon mit seinen einleitenden Charakterisierungen Himmlisches, Unendliches, Fliessendes und Ineinander-Verwobenes, Tiefe, Weite, Meditation, Faszination der Einfachheit! Als Namensgeber figuriert Papst Gregor der Grosse (540–604), welcher mittels des Versuchs einer Sammlung und Vereinheitlichung der Choralgesänge wichtige Beiträge zu dessen praktischer Ausgestaltung und geografischer Verbreitung erbrachte.

Musikwissenschaft und Theologie

Akribisch pflückte Gietl die Kernelemente einer musikwissenschaftlichen Definition auseinander. «Choral» bedeutet zunächst einen Sammelbegriff für zumindest fünf Ausprägungen, welche ab dem 9. Jahrhundert in den fränkischen Choral einmünden. Er bezeichnet die einstimmige, instrumentenfreie und nach den sogenannten Kirchentonarten modal ausgerichtete musikalische Einkleidung der lateinischen liturgischen Texte der abendländischen katholischen Liturgien. Letzteres heisst die Nichtfussfassung in den orthodoxen Kirchen. Schlusston (Finalis) und Melodieumfang (Ambitus) entscheiden über die ­Zuordnung zu den acht Kirchentonarten. Die lateinische Sprache durchdringt den Choral, dessen Texte den für die Feier der Liturgie zugelassenen Quellen entstammen. Mithin langte der Experte unweigerlich bei der theologischen Definition an: «Die Kirche anerkennt den Gregorianischen Choral als der römischen Liturgie eigen; deshalb soll er in den liturgischen Handlungen bei Gleichheit des Übrigen den ersten Platz einnehmen.» Als Massstab für die Qualität gilt die Heiligkeit der Kirchenmusik durch Verbindung mit dem Wort und durch einen möglichst intensiven Grad der Verbindung mit dem liturgischen Geschehen. Gietl formuliert das als erklingendes Wort der Heiligen Schrift, wobei die Art der Vertonung wichtige Worte hervorhebt. Er schält als Unterschied zur modernen absoluten Notation die relative Tonhöhe des Chorals, welcher ein Vier-Linien-Notensystem kennt, heraus, wobei jene, in welcher der Gesang angestimmt wird, freigestellt bleibt. Das Denken in Hexachorden (Tonräumen einer Sext) und das Singen nach Tonsilben ermöglicht den Sängern, die Lage des Halbtons zu behalten.

Es gibt zunächst die Vertonungsstile des Accentus als Sammelbezeichnung für Stücke, bei denen der Text vorwiegend auf einem Rezitationston (Tenor) vorgetragen wird mit den zentralen Bestandteilen grammatikalische Einteilung des Textes, musikalisch geformte Satzstruktur, phonetisch und syntaktisch adäquater Vortrag des Textes, und des Concentus mit dem Hauptmerkmal der melodischen Eigenständigkeit der Komposition, wozu strophische Gesänge, Antifonen sowie Propriums- und Ordinariumsgesänge zählen. Der Referent beschreibt als weitere Vertonungsstile den syllabischen mit vorwiegend einer Silbe auf einem Ton, den oligotonischen, worin eine Melodie aus Gruppen weniger Töne besteht, den melismatischen mit Gruppen mehrerer bis vieler Töne pro Silbe, wodurch ein grosses musikalisches Eigengewicht zustande gerät. Für die handlungsbegleitenden Gesänge Introitus, Offertorium, Communio gibt es verschiedene Modelle in der Psalmodie. Philipp Gietl schloss seinen Vortrag mit elementaren Ausführungen zu den Neumen ab, welche «Wink», «Geste» bedeuten und auf die Anleitung griechischer Chöre mittels Handbewegungen zurückgehen, womit melodischer Verlauf, Rhythmus und Tempo angezeigt, «in die Luft skizziert» werden. Als Neumenhandschriften kennen wir heute noch die einfache, lesbare Akzentnotation St. Gallens (922–925), die Punktnotation Metz’ (um 930) mit ungefährem Melodieverlauf und das Graduale Triplex als umfassende Repertoirequelle mit drei Notationsformen.

(Text für die Kolingesellschaft Zug von Jürg Johner)