Noah zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Musik

,

Das neu geschaffene Oratorium «Die Sintflut» wird am 28. September in Steinhausen und Baar uraufgeführt. Die alte biblische Geschichte um die Arche Noah thematisiert berührend die heutigen ökologischen Katastrophen.

  • Der «Chor der Generationen» mit Dirigent Christian Renggli bei einer Hauptprobe im Zentrum Chilematt. Bild: Stefan Kaiser (Steinhausen, 21. 9. 2024)
    Der «Chor der Generationen» mit Dirigent Christian Renggli bei einer Hauptprobe im Zentrum Chilematt. Bild: Stefan Kaiser (Steinhausen, 21. 9. 2024)

Steinhausen – Im grossen Saal des Zentrums Chilematt in Steinhausen steht der «Chor der Generationen» übereinander gestaffelt. Er besteht zu etwa zwei Dritteln aus den Kirchenchören Baar und Steinhausen; links von ihnen haben sich die jugendlichen Chorsängerinnen und -sänger der Musikschule Steinhausen (Leitung: Patricia Samaniego) gruppiert.

Davor die Orchestra Puccini: eine kleine Formation, jedoch mit allen Registern – und einer Harfe. Dirigent Christian Renggli steht im Mittelpunkt: Gerade findet die erste Tutti-Probe statt. Auch die beiden deutschen Schauspieler Martin Butzke und Alexander Maria Schmidt sind angereist; sie werden im neuen Oratorium «Die Sintflut» die Texte sprechen, ihre Headsets sind schon installiert. Die Mezzosopranistin Susanne Andres steht bereit – als Darstellerin von Noahs Frau. Und auf der Seite hat Komponist Martin Völlinger seine Noten ausgebreitet. Wie muss das sein, wenn man sein Ton-Werk – bisher im inneren Ohr, am Klavier und auf Notenpapier erahnt – zum allerersten Mal als real schwingende Luft hören darf?

Ein klingendes Gleichnis

Idee, Text und Konzept für das moderne Oratorium stammen von Hanspeter Gschwend, der mit 15 Hörspielen, 2 Bühnenwerken und vielen Radiofeatures grosse Erfahrung im Verfassen von sprech- und singbaren Texten hat. Die sensible Zusammenarbeit zwischen Autor und Komponist muss optimal verlaufen sein – so denkt man unwillkürlich beim ersten Hören. Entstanden ist ein klingendes Gleichnis zum Thema «Sintflut» für uns Heutige.

«Verheerende Überschwemmungen auf allen Kontinenten und der steigende Meeresspiegel erinnern plötzlich an die biblische Geschichte», heisst es im Projektbeschrieb. Die Bibel spreche von «Gott», die moderne Wissenschaft von «Natur». Die Frage nach der Schuld bleibe indes dieselbe: «Wie kann es sein, dass Gott beziehungsweise die Evolution Menschen geschaffen hat, die es in der Hand haben, ihre Schöpfung zu zerstören?» Hat die Natur im Menschen einen Irrläufer hervorgebracht?

Gschwends und Völlingers Werk wählt den einzig möglichen Weg, diese gleichzeitig religiös und biologisch existenzielle Frage dem Publikum nicht nur ins Bewusstsein, sondern unter die Haut zu transportieren: «Nicht das Denken – das emotionale Erleben kann uns weiterhelfen». Die elementare Kraft der Musik soll die Gewalt des drohenden ökologischen Unheils fühlbar, erlebbar machen. Und die Reaktion Noahs darauf.

Der Mensch hat die Wahl ...

Die erste Tutti-Probe offenbart, was hier gelungen ist. Gschwends Text erzählt von einem verzweifelten Noah, der eigentlich keine Arche bauen und den Rest der Kreatur nicht ertrinken lassen will; von einem Noah, der von Gott fordert, das Böse auszutilgen. Gott aber will die Freiheit des Menschen, sich zu entscheiden, nicht anrühren. Evolutionistisch übersetzt hiesse dies: Das menschliche Hirn ist, was es ist – es kann wählen. Noah lehnt sich auf und erhält sieben Jahre Gnadenfrist, um die Menschen zur Umkehr zu bewegen, aber es nützt nichts, und am Ende gibt er – dem Wahnsinn nahe – auf. Der Tag des Zorns, der «Dies irae» rückt näher. Die im Text aufgebaute Spannung zwischen menschlicher Freiheit und Todessucht hat Völlinger innovativ und grandios in Musik umgesetzt. Wie wird es ausgehen mit Noah – mit uns? Die Musik macht, dass einem diese Frage bis ins vegetative Nervensystem kriecht.

Die Hoffnung, dass es am Ende doch eine Heilsgeschichte werden könnte, dass Gott oder die Natur zu einem neuen «Bund» bereit seien, wird hochgehalten in der Figur von Noahs Frau. Den «Weibern», die Kinder gebären und nähren, die das Leben weitergeben von Generation zu Generation, wird die Rolle des Mahnens, Glaubens und Stützens zugeschrieben. Mezzosopranistin Susanne Andres erfüllt sie mit emotionaler Stimmgewalt. Wunderschöne Harfenpassagen begleiten sie. Und die Querflöte wird zur Friedenstaube, die sich nach der Flut flügelflatternd ins Licht schraubt.

Das Oratorium schwankt – wie wir alle – zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Musikalisch mächtig und «Härchen aufstellend». Ein wichtiges Werk – in traditionellem Kostüm, mit aktuellster Aussage. (Text von Dorotea Bitterli)

 

Hinweis

Das Oratorium «Die Sintflut» von Hanspeter Gschwend und Martin Völlinger wird uraufgeführt am Samstag, 28. September, um 19.30 Uhr im Zentrum Chilematt Steinhausen. Weitere Aufführungen: am 29. September, um 17 Uhr in der Kirche St. Martin Baar, und am 5. Oktober, um 17 Uhr in der Klosterkirche Pfäfers. Weitere Infos: www.chordergenerationen.ch