Gelb ist die Melodie
Dies & Das
Der Zuger Kontrabassist Raffaele Bossard hat vor wenigen Jahren das Komponieren begonnen. Nun wird seine erste abendfüllende Sinfonie aufgeführt. Wie das geht?
Cham – Dieser Artikel erschien in der Oktober-Ausgabe 2025. Hier geht es zu den weiteren Artikeln.
Worüber soll man Musik machen? Über politische Entwicklungen, die grossen Themen der Menschheit? Der Musiker Raffaele Bossard hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er hat eine ganz persönliche Komposition arrangiert, die diesen Oktober ihre Uraufführung erlebt. Raffaele Bossard nennt sich Quereinsteiger, wenn er übers Komponieren spricht. Doch der 43-jährige Zuger ist seit Kindheits- und Jugendtagen in der Musik zu Hause. Mit 16 Jahren wechselte er von der elektrischen Bassgitarre zum Kontrabass. Es folgte das Studium in Pädagogik und Performance bei namhaften Bassisten wie Heiri Känzig und Patrice Moret an der Hochschule Luzern für Musik. Den Master schloss er 2008 ab.
Bossard trat bald auf Festivals in London, Los Angeles oder Izmir auf und seine Arbeit als Kontrabassist ist mittlerweile auf über 40 Tonträgern dokumentiert. Mit den Auftritten und Bandprojekten, für die man als Bassist doch ziemlich häufig angefragt wird, reichte es trotzdem nicht mehr, als dann mit dem Familienleben und zwei Kindern eine andere Verantwortung im Leben auftauchten.
So begann der Jazzbassist als Booker für andere Künstler*innen und für die Bands, in welchen er selbst Musik machte. 2013 gründete er deshalb die Booking-Agentur «MINUSCULE booking», die weltweit Tourneen für Schweizer Künstler*innen organisiert.
Eine neue Leidenschaft
Es lief gut für Raffaele Bossard als Musiker und als Booker, doch dann kam die Pandemie. Und damit viel Zeit zum «Rumnerden». Seriöser formuliert: um sich in die Kunst der Filmmusik und des Komponierens allgemein einzuarbeiten. Vor der Pandemie habe er gelegentlich Stücke für eine Band geschrieben. Während Corona ändert sich das. «Es war eine inspirierende Zeit, ich habe den Zugang zu vielen neuen Musikrichtungen gefunden.» Er begann, Musik zu Filmen zu komponieren. Baute Stücke erstmals für ganze Orchester – für den «klassischen Klangkörper». Das habe ihn so fasziniert, «stundenlang bin ich komplett eingetaucht», so Bossard. Er experimentierte mit Synthesizern und begann, orchestrale und synthetische Klänge in hybriden Kompositionen zu kombinieren.
Bald darauf vertonte er dann bereits zwei Dokumentarfilme und komponierte die Musik für verschiedene Trailer. Er sei halt der Typ, «der sich etwas in den Grind setzt», sagt er. Durch die Möglichkeiten jedoch, nun beim Komponieren digital ganze Orchester nutzen zu können, wuchs ein neues Ziel in ihm heran: «Meine Musik von einem Orchester live gespielt zu erleben, das wäre der Wahnsinn», stellte er sich vor. Imposant, epochal, einfach lebendig. «Ich produzierte diese Musik ja nur am PC oder Klavier allein im kleinen Kämmerlein. Diese Musik gespielt von Menschen zu erleben, das Licht, die Wirkung eines orchestralen Konzerts gab mir nur schon in der Vorstellung Gänsehaut.» Gleichzeitig hielt er diese Hoffnung auch für ein wenig vermessen. «Es schien mir absurd, gerade weil ich erst seit kurzem komponierte und es so viele gute Leute gibt mit viel mehr Erfahrung.»
Es wird persönlich
Dass es mit der Uraufführung seiner ersten Sinfonie nun bereits wenige Jahre später klappt, hat mit den Kontakten zu tun, die sich Bossard in den vergangenen Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Bereichen des Musikschaffens erarbeitet hat. Samuel Nyffeler, Dirigent des 50-köpfigen Orchesters Cham-Hünenberg, war es, bei dem seine Idee schnell auf offene Ohren stiess. Auf das diesjährige 130-Jahr-Jubiläum des Orchesters wurde dann das Sinfonie-Debüt von Raffaele Bossard geplant. Erst habe die Idee im Raum gestanden, die Musik mit einem Film zu kombinieren.
Bossard hat ein Faible für Fantasy. Für Bücher, Filme und Games mit Drachen, Elfen und anderen Fabelwesen. Deshalb wundert es nicht, dass er auch für Computer- und Handyspiele kompo-niert. Und dass er sich gerne epischen, cineastischen Kompositionen widmet.
Doch der Prozess führte ihn weg vom Film, in eine andere Richtung. In eine sehr persönliche. «Coccolinos Welt» erzählt nun von ganz vielem, was uns als Menschen prägt: von der Kindheit, von Liebe und Freundschaft. Aber auch von Verlust und Angst, von Mut, Frieden und Hoffnung. Auf der Website des Orchesters heisst es, das Publikum werde eingeladen, persönliche Meilensteine des Komponisten musikalisch zu durchleben. «Coccolino», der Kosename seiner Mutter für ihn, die Komposition dreht sich um sein Leben. Und ja, das könnte etwas gar selbstbezogen wirken, «als würde ich, 43-jährig, meine Autobiografie auf den Markt bringen», sagt Bossard lachend. Doch der Auslöser sei gewesen, etwas wirklich Ehrliches zu erschaffen, etwas ganz Persönliches, das nicht verbirgt. «Komponieren ist sowieso persönlich. Musik ist immer geprägt davon, was einen geformt hat, einen umtreibt. Davon, was man fühlt und erlebt», so Bossard. Das sei in der oft anonymen Welt heute, was er am ehrlichsten ausdrücken könne.
Damit jedoch stellt er sich auch komplett in den Fokus. «Ich war als Musiker noch nie so exponiert», sagt er. Als Bassist und als Booker habe er immer als Teamplayer und eher im Hintergrund funktioniert. Jetzt müsse er herausfinden: Bin ich das? Mag ich diese neue Rolle? Fragen, die er sich beim Komponieren nie stellen musste.
Und jetzt zur Arbeit
«Ich habe besonders bei diesem Projekt gemerkt, dass ich mich immer wohler und sicherer dabei fühle», so Bossard. Auch wenn der Beginn eine grosse Herausforderung gewesen sei. Nicht selten habe er beim Dirigenten oder Konzertmeister nach der Spielbarkeit einer Passage nachgefragt. «Da bin ich immer noch am Lernen», sagt Bossard. Auch seine eigene Sprache zu entwickeln in der Komposition, habe Zeit gebraucht. «Allgemein ist so eine Komposition enorm aufwendig. Aber eben auch eine so schöne Arbeit», so Bossard.
Doch wie beginnt man überhaupt damit, ein Stück zu komponieren? Wie schreibt man eine Partitur für so viele Instrumente? Erstmal sucht man nach der Essenz des Werkes, dem Kern – eine Melodie beispielsweise, erklärt Raffaele Bossard. Die sei jedoch selten länger als ein, zwei Minuten. Diese wird dann umgearbeitet – «aufgeblasen» – zu einer ganzen Partitur. Ein Meter hoch sei dabei das Notenpapier, das er über den Boden verteile: Oben die Holzbläser mit der Flöte als Erstes, ganz unten der Kontrabass. Und darauf arbeite er nun eigentlich ziemlich architektonisch. «Gelb ist die Melodie, grün ist die Harmonik. Ich entscheide dann als Erstes, welches Instrument wann die Melodie übernimmt, wo sie verschwindet und wieder auftaucht. Die gelben Striche ziehen sich nun über die Blätter, es kommen in Grün Harmonien dazu, weitere Farben, ‹Verzierungen› mit Perkussion zum Beispiel. Orchestrieren, nennt man das.» Raffaele Bossard sagt, es sei ihm erst durch dieses Projekt wirklich aufgegangen: Das liegt mir. «Eine Affinität war natürlich da», sagt Bossard. Sein gutes Bauchgefühl nun jedoch ergänzt zu bekommen durch das Feedback des grossartigen Orchesters, das motiviere für künftige Projekte nochmals viel mehr.
Text: Jana Avanzini