Mehrdimensionale Welten aus Papier
Kunst & Baukultur
Die Zuger Galerie Urs Reichlin repräsentiert für einmal eine weniger populäre Kunstform. Umso grösser sind die Überraschungsmomente, welche diese zu Unrecht als angestaubt geltende Technik für das betrachtende Auge bereithält.
Zug – Mit dem Begriff des Scherenschnittes mögen sich viele an die eigene Kindheit erinnert fühlen, als man Muster in die Ränder mehrfach gefalteten Papieres schnitt und schliesslich ein axialsymmetrisches Kunstwerk vor sich hielt. Als selbstständige Kunstform hat die Scheren- oder Papierschnitt-Technik ihren Ursprung in Fernost und ist im Laufe des 17. Jahrhunderts nach Europa gebracht worden. Auch in der Schweiz wurde und wird das Handwerk gepflegt – auf höchstem Niveau. Zentren der filigranen Scherenschnittkunst sind vor allem das Appenzellische oder der Kanton Waadt und das dortige Pays-d’Enhaut rund um Château-d’Oex.
Scherenschnittkunst findet bis heute ihre Sammlerkreise. Zu den bekannten praktizierenden Exponenten dieser anspruchsvollen Disziplin gehört die deutsche Künstlerin Annette Schröter (*1956), deren eindrucksvolle Arbeiten aktuell in der Zuger Galerie Urs Reichlin ausgestellt sind. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, zeitgenössische Papierschnitttechnik in ihrer Vielfalt so konzentriert zu erleben.
Das Silhouettenhafte durchbrechen
Schröter verwendet für ihre in Zug ausgestellten Werke vornehmlich schwarzes Papier. Die Motive sind zum einen von osteuropäischen Szenarien inspiriert – etwa unscheinbare Überbleibsel des Kalten Krieges wie verlassene Kriegsbunker oder der an sich unspektakuläre Schattenwurf einer Palme auf einen gekachelten Uferquai in einem osteuropäischen Seebad. Zum anderen nimmt Schröter Beobachtungen aus ihrem Alltag in ihr Motivrepertoire auf.
Was auf einem herkömmlichen Bild kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, wirkt in der Gestalt eines mit scharfer Klinge in ungemeiner Akribie entstandenen Papierschnittes wie von dieser Welt entrückt. Indem die Künstlerin zwischen den Schnitten und dem Träger einen Abstand freilässt, entstehen feine Schatten – und somit zusätzliche Plastizität. Farbige Hintergründe oder ins Sujet integrierte Elemente durchbrechen zuweilen das für Papierschnitte typische streng Silhouettenhafte.
Eine Anlehnung an die folkloristische Motivik der Papierschnittkunst findet sich in der Werkwahl der Zuger Galerie in der Form zweier lebensgrosser Trachtenfrauen wieder, die sich einer Ansammlung von Emblemata und Logos bekannter Konzerne gegenüber finden – ein Spannungsfeld zwischen bäuerlichem Landleben vergangener Zeiten und der gewinnorientierten Wirtschaftswelt der Gegenwart. Bis zu drei Meter messende Papierschnitte, lose an die Wand gehängt, und hinter Glas gerahmte kleinerformatige Arbeiten wechseln sich in der Ausstellung ab und repräsentieren in ihrer Wahl das Schaffen der Deutschen.
Der Reiz einer weniger populären Kunstform
Die aus Meissen stammende Annette Schröter ist die Witwe des bekannten, 2021 verstorbenen Leipziger Fotografen Erasmus Schröter. Zunächst wandte sich die akademisch breit gebildete Künstlerin hauptsächlich der Malerei zu, wo sich unter anderem das Motiv der Trachten gehäuft wiederfindet. Über einen Flohmarktfund soll sie schliesslich zur Kunst des Papierschnittes gekommen sein.
Lange hat sie nach dem idealen Papier für ihre Kunst gesucht und es schliesslich bei einer spezialisierten Herstellerin in Belgien gefunden. Für den Zuger Galeristen ist die Ausstellung von Annette Schröters Werken insofern Neuland, als dass diese Disziplin zum ersten Mal Einzug in die Räume an der Baarerstrasse hält. Selbstredend geniesst die Papierschnittkunst nicht dieselbe Popularität wie Malerei oder Plastik, doch hat sich die Zuger Galerie bewusst entschieden, für einmal eine Nischentechnik zu präsentieren – die wahrlich überrascht. (Text von Andreas Faessler)