Dreissig Rollen in einer Person

Theater & Tanz

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Die Schauspielerin und Regisseurin Annette Windlin hat sich eines der erfolgreichsten Theaterstücke des 20. Jahrhunderts «einverleibt»: Sie spielt im Zuger Burgbachkeller Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame».

  • Annette Windlin zeigt sich extrem wandlungsfähig. Während des gesamten Stücks mit dabei: ein Sarg. (Bild Matthias Jurt)
    Annette Windlin zeigt sich extrem wandlungsfähig. Während des gesamten Stücks mit dabei: ein Sarg. (Bild Matthias Jurt)

Zug – Mit der Premiere seiner Tragikomödie «Der Besuch der alten Dame» aus dem Jahre 1956 begründete der damals 35-jährige Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) seine finanzielle Unabhängigkeit: Das Stück wurde innert Kürze zu einem Welterfolg.

Der Schauplatz ist ein Hinterwäldler-Kaff namens «Güllen», in dem zwei Universen aufeinanderprallen: die verarmte, scheinheilige Gutbürgerlichkeit der Dorfbewohner und die amoralische, steinreiche kosmopolitische Welt der Ölmagnatin Claire Zachanassian. Verbunden sind sie über eine alte Liebesgeschichte, die unauslöschliche Wunden hinterlassen hat: Vor vielen Jahrzehnten liebte und schwängerte Alfred Ill die junge «Kläri», um sie dann im Stich zu lassen, vor Gericht zu verleugnen und in die Prostitution zu abzustossen. Jetzt kehrt die einst Ohnmächtige mit geballter Finanzmacht zurück, um Rache zu nehmen: Sie verspricht den Güllenern eine Milliarde unter der Bedingung, dass diese Alfred umbringen. Eine groteske Ausgangssituation à la Dürrenmatt: Geld oder Moral?

Das Stück hat über dreissig Rollen. Die Innerschweizer Schauspielerin Annette Windlin kreierte daraus ein «Solo» (inszeniert von Dominique Müller), und wie sie das wohl schaffen würde, darauf durfte man mindestens so gespannt sein wie auf den Stückverlauf selbst. Die Idee entstand aus «einer sehr persönlichen Erfahrung, dem Durchleben einer ohnmächtigen Situation», schreibt die Theaterfrau auf ihrer Website.

Episches Theater

Windlins «Recherche zum Thema Ohnmacht» hat auf der Bühne ein paar Helfer. Zunächst ein durchgehendes Bühnenbild, nämlich Alfred Ills Sarg, mit dem sie schliesslich in Richtung Capri abreisen wird. Indem die Geschichte vom Ende her aufgerollt wird, fungiert der Sarg mal als Güllener Stationshäuschen, mal als Ladentheke oder geheimes Liebesbänkchen im Wald. Der weisse Vorhang im Bühnenhintergrund wird zur Leinwand für Videoinstallationen (Valentina Maria Mächler), welche kollektive Situationen wie die Abstimmung der Güllener Bürger über Ills Schicksal darstellbar machen.

Aus dem Puppentheater stammen zwei Stofffiguren, die bespielt und mittels Stimmveränderungen charakterisiert werden als die blinden Kastraten, die Zachanassians Rache bereits zum Opfer gefallen und leere Kreaturen ihrer Gnade sind. Das ist so gut gemacht, dass sich einem beim Zuschauen zwischen Lachen und Grauen die Härchen aufstellen. Typisch Dürrenmatt, komisch und tragisch zugleich. Erzählt mit den vielfältigen Mitteln des «epischen Theaters» im Sinne Bertolt Brechts.

Und dann ist da der Musiker Christian Wallner, der mit seinen Instrumenten Stimmungen heraufbeschwört, aber auch Geräuschkulissen fabriziert, beispielsweise vorbeiratternde Züge nachahmt. Darüber hinaus ist er schauspielernder Partner für Windlin, ob als stummer, schnurrbartbewehrter Ehemann Nr. VII-IX, als hustendes Reh im Wald oder als Kellner, der sie bedient, während sie trinkend und rauchend die Güllener Entscheidung abwartet.

Feinste Darstellungskunst

Windlin selbst schlüpft blitzschnell in die unterschiedlichsten Rollen. Accessoirewechsel markieren die Übergänge, aber die mächtigsten Darstellungsmittel kommen aus ihrer Schauspielkunst: Mal brüstet sie sich mit breitem «allemand fédéral» als Bürgermeister, mal huscht sie mit gebeugtem Rücken und nuschelnder Sprechweise als schleimiger Lehrer herum, dann wieder imitiert sie die schiefe Körperhaltung des unter Druck geratenen Alfred Ill. All das wird überragt von Claire Zachanassian selbst – ihrer steifen, hochaufgerichteten Gestalt, ihrer harten, erbarmungslosen Diktion.

Die zarteste Szene steht am Ende: Fast reglos sitzend und ins Publikum schauend, skizziert Windlin das letzte Gespräch des ehemaligen Liebespaars, indem sie den Blick nach rechts oder links wendet. Ganz leicht ändert jeweils der Tonfall, die beiden Figuren verfliessen ineinander, der Dialog ist ganz innerlich, ganz seelisch und offenbart die alte Liebe und die nur durch Tod sühnbare Verletzung.

Windlins und Wallners Leistungen ernteten im ausverkauften Burgbachkeller warmen Applaus. (Text von Dorotea Bitterli)

Hinweis Die letzte Vorstellung im Burgbachkeller von heute Abend ist ausverkauft. Weitere Spielorte und -daten: www.annettewindlin.ch