Der «Unbekannte» der Wiener Moderne

Kunst & Baukultur

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Das Kunsthaus Zug widmet Richard Gerstl eine grosse, hochkarätig bespielte Sonderausstellung. Er ist von den Hauptvertretern seiner Epoche am schwierigsten zu fassen. Viele Mythen ranken sich um den früh verstorbenen Maler.

  • Zu den Schlüsselwerken gehören Richard Gerstls Selbstporträts. (Bild Stefan Kaiser)
    Zu den Schlüsselwerken gehören Richard Gerstls Selbstporträts. (Bild Stefan Kaiser)

Zug – Neben Klimt, Kokoschka und Schiele gilt er bis heute als rätselhaftester Künstler der Wiener Moderne: Dass das Oeuvre von Richard Gerstl (1883–1908) nach seinem frühen Ableben für lange Zeit der Vergessenheit anheimgefallen ist, hat dessen Aufarbeitung in den vergangenen Jahrzehnten zu einem umso spannenderen Forschungsfeld werden lassen. Führende Wiener Museen haben die Bedeutung dieses «ersten österreichischen Expressionisten» erkannt, im Oberen Belvedere teilt sich eines seiner Schlüsselwerke den Raum mit den Hauptwerken Gustav Klimts.

Jetzt hängt dieses einzigartige Gemälde – «Die Schwestern Karoline und Pauline Fey» – als Leihgabe im Kunsthaus Zug; gemeinsam mit anderen 39 Gerstl-Exponaten, darunter mehrere weitere Hauptwerke. Mit der Ausstellung «Richard Gerstl – Inspiration-Vermächtnis», welche als Kooperation mit dem Wiener Leopold Museum entstanden ist, schreibt das Kunsthaus Zug nach der grossen Gerstl-Retrospektive in Frankfurt 2017 ein weiteres Kapitel in der packenden Entdeckungsgeschichte dieses unverstandenen, rebellischen und ausserhalb Österreichs bis heute wenig wahrgenommenen Wieners, dessen Leben 1883 unter wohlbehüteten, gesellschaftlich privilegierten Umständen begonnen hatte.

Dramatischer Suizid eines labilen Genies

Biografisch gibt es schmerzlich wenig auszuführen über Gerstl. Sein Talent wurde wohl früh erkannt, mit seinen egozentrischen, zuweilen arroganten Wesenszügen eckte er an, überwarf sich mit seinem persönlichen Umfeld. Wichtige Kontakte zur Wiener Kunstszene ebneten ihm dennoch gewissermassen den Weg.

Eine schicksalhafte Freundschaft zur Familie des Komponisten Arnold Schönberg läutete bereits das frühe Ende von Gerstls Leben ein: Seine jäh aufgeflogene Liebschaft zu Schönbergs Frau Mathilde im Jahre 1908 zog ein folgenschweres Zerwürfnis mit dem Komponisten nach sich. Der psychisch ungeerdete Maler nahm sich daraufhin auf spektakuläre Weise das Leben. Wiederholt schlägt die Zuger Ausstellung eine Brücke zu dieser dramatischen Episode am Höhepunkt von Gerstls Schaffen.

Jeglicher Versuch, den Menschen Richard Gerstl zu fassen oder gar zu begreifen, wird insofern scheitern, als er reine Mutmassung bleibt. Gleiches gilt für seine Kunst, aus der sich kaum eine Konstante herauslesen lässt. Mit Begriffen, die (zu)viel Raum für Auslegung offenlassen, haben diverse Exponenten Gerstls Kunst zu charakterisieren versucht – schonungslos, selbstbewusst, vorbildlos, radikal ... Eines aber lässt sich klar konstatieren: Gerstl setzte fast rebellisch einen Gegenakzent zum damals dominierenden Stil der Wiener Secession. Schönheitsideal und Ästhetik lehnte er weitgehend ab und foutierte sich um den «guten Ton» in der Kunst und ihre gängigen Konventionen.

Eine Annäherung an das Werk und den Menschen dahinter findet vor allem statt über den Weg der Gegenüberstellung – zum einen mit dem Schaffen stilbildender Zeitgenossen, zum anderen mit künstlerischen Antworten auf Gerstl aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachdem der fast vergessene Wiener allmählich wieder entdeckt worden war.

Die Verbindung von Zug nach Wien

In diesem Wiederentdeckungsprozess spielte das Kunsthaus Zug eine wesentliche Rolle: Der Wiener Bildhauer Fritz Wotruba erwarb in den 1950er-Jahren einen grossen Teil von Gerstls Nachlass und liess sie der Wiener Kunstgalerie Würthle zukommen, welche damals dem Mäzenatenpaar Fritz und Editha Kamm-Ehrbar aus Zug gehörte. Durch die geschickte Bewirtschaftung dieses bislang vergessenen Fundus trug das Ehepaar massgeblich zum Bekanntwerden Gerstls bei.

Der enge Austausch mit dem Wiener Sammlerpaar Rudolf und Elisabeth Leopold verlieh der Rezeption von Gerstls Oevure massgeblichen Schub. Das im Jahre 2001 aus der Sammlung Leopold hervorgegangene gleichnamige Museum in Wien verfügt heute neben dem Oberen Belvedere über die meisten der knapp 60 bekannten Gemälde und 8 Zeichnungen Gerstls. Das Kunsthaus Zug als Domizil der Sammlung Kamm selbst verfügt über zehn seiner Werke.

Mit seiner von langer Hand gemeinsam mit dem Wiener Leopold Museum geplanten Sonderausstellung mit insgesamt 40 Gerstl-Werken geht das Kunsthaus Zug nun den erwähnten Weg der Auseinandersetzung des Wieners mit dem Schaffen seiner Zeitgenossen und noch mehr mit demjenigen von späteren Exponenten der Kunst. Der Dialog mit den voluminösen Materialbildern Otto Mühls, den expressiven Bildnissen von Georg Baselitz oder ferner mit den Farbexplosionen eines Hermann Nitsch hebt Gerstls offensichtliche Bereitschaft zum gestalterischen Experimentieren hervor.

Auf der anderen Seite verdeutlichen die begleitenden Zeichnungen von Schiele, Kokoschka, Kubin oder Klimt aus dem hauseigenen Fundus, wie Gerstl noch lange vor den genannten zu einem eigenständigen expressiven Werk voller stilistischer Neuerungen gefunden hatte.

Radikale Abhebung von allen Konventionen

Wie Richard Gerstl die Vertreter des in den 1960er-Jahren aufkommenden Aktivismus inspiriert hat, zeigt vor Ort eindrücklich eine Videoperformance von Günter Brus aus den 1970er-Jahren mit äusserst explizitem Inhalt. Damit greift Brus mit neuen Formen jene Radikalität gegenüber aller Konventionen auf, durch welche sich auch Gerstl in seiner Zeit hervorgetan hatte.

Und doch: Gerstl konnte auch durchaus «sanft». In einigen Ölgemälden schlägt sich eine Liebe zu Akribie und Detail nieder – reizende Frauenporträts, sein alter Herr auf einem Stuhl sitzend, eine Mutter mit Kind, ein ausdrucksstarker Arnold Schönberg mit Zigarette ...

Aber schon tauchen erneut Widersprüche und Regelbruch auf; welcher Künstler hat sich jemals zuvor als schallend lachende Person selbst porträtiert? Oder als Halbakt mit nahezu göttlicher Aura? Spätestens in seinem Ganzkörper-Autoporträt als Splitternackter wird Gerstl selbst zum Produkt seiner Malerei. Und dann zwei Malstile übereinander in ein und demselben Bild.

Als wäre das alles nicht genug, folgt auch noch eine unerwartete materielle Auflösung des Gegenständlichen in seinem Spätwerk, was jegliche bisherigen Einordnungsversuche über den Haufen wirft. Man wird sich eingestehen müssen: Angesichts dieses schwer zu ergründenden Werkes wären Bildgattungen neu zu definieren.

Beachtung erhalten auch Gerstls weniger aufsehenerregenden kleinformatigeren Landschaftsbilder, welche hauptsächlich während des gemeinsamen, folgenschweren Aufenthaltes mit den Schönbergs am Traunsee entstanden sind. Auch auf dieses Schaffensfeld wird mit künstlerischen Antworten aus jüngerer Zeit reagiert. In allen Räumen sind zudem Zitate von Kunstschaffenden über Gerstl und sein Werk zu lesen. Der Blick Dritter auf den Unfassbaren lässt weitere Annäherungsversuche zu.

Bewusst nicht monografisch

Für Kunsthaus-Direktor Matthias Haldemann ist die Eröffnung der an sich bereits 2020 geplanten, coronabedingt wiederholt vertagten Sonderausstellung ein besonderer Moment, wie er sagt. Der Vernissage sind Jahre der Vorbereitung vorausgegangen, verbunden mit logistischen Kraftakten, etwa was den Transfer der kostbaren Leihgaben aus den Wiener Museen angeht. «Unsere Ausstellung ist bewusst nicht monografisch konzipiert», sagt Matthias Haldemann. «Denn wir wollen Richard Gerstl nicht als isolierte Figur darstellen, auch wenn er weiterhin als der grosse Unbekannte des Wiener Expressionismus gelten wird.»

Die Rezeption Gerstls ist gemäss Haldemann ein laufender Prozess, innerhalb dessen der Künstler immer wieder neu entdeckt werde. «In seinem kurzen Künstlerleben lässt sich keine Entwicklung im klassischen Sinne feststellen», führt Haldemann dazu aus. Folglich wird es darauf hinauslaufen, dass Gerstls Position innerhalb der Wiener Moderne korrigiert werden muss. Die endgültige Einordnung seines Werks wird noch weitere intensive Untersuchungen nach sich ziehen. Haldemann: «Mit der Ausstellung schreiben wir diese Geschichte jetzt weiter.»

Wohl wahr: Mit «Richard Gerstl – Inspiration-Vermächtnis» wird das Kunsthaus Zug die Wahrnehmung Richard Gerstls ausserhalb Österreichs nachhaltig prägen und die Ergründung dieses radikalen Anti-Secessionisten ein Stück voranbringen. (Text von Andreas Faessler)

Hinweis

«Richard Gerstl – Inspiration - Vermächtnis», Sonderausstellung im Kunsthaus Zug vom 14. August bis 4. Dezember. Infos und Programm:

www.kunsthauszug.ch.