«Das Schweigen brechen»

Literatur & Gesellschaft

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Özlem Çimen las an ihrem Wohnort Zug aus ihrem ersten Roman «Babas Schweigen». Darin entdeckt eine junge Frau ostanatolischer Herkunft ihre Wurzeln wieder.

Zug – Wie ist es, wenn man, in Luzern geboren und aufgewachsen, verheiratet und gerade zum ersten Mal schwanger, in das Dorf der Grosseltern zurückkehrt? An den Ort unbeschwerter Kindheitssommer in Ostanatolien – und plötzlich begreift, dass es in der Familiengeschichte etwas gibt, das so schwer wiegt, dass es in generationenübergreifendes Schweigen gehüllt ist?

Özlem Çimen sitzt im Untergeschoss des Buchhauses Balmer in Zug und liest aus ihrem Erstling «Babas Schweigen» (soeben im Limmatverlag erschienen). Entspannt und aus dunklen Augen strahlend sitzt die Zugerin vor einem überraschend zahlreich erschienenen Publikum. Die Ich-Erzählerin im Buch heisst wie sie, Özlem: «Ich stehe zu dieser Geschichte, weil es auch meine ist. Alle anderen Namen sind anonymisiert.»

Was steckt hinter «Babas Schweigen»?

Den autofiktionalen Roman hat die inzwischen 43-Jährige für ihre beiden Töchter geschrieben. «Corona hatte mich stark erwischt. Es ging mir sehr schlecht. Da wurde mir bewusst, dass meine Kinder die Wahrheit über meine und damit auch ihre Wurzeln nie erfahren würden, wenn ich sie nicht aufschreibe.» Sie spricht vom «Päckli», das sie «spät, erst mit über 30, bekam». Unvermittelt wird eine noch ungenannte Last spürbar, ein kollektives Geheimnis.

Was steckt hinter «Babas Schweigen»? In jenem Sommer, als die Erzählerin Özlem ins Dorf ihrer in die Schweiz ausgewanderten Eltern zurückkehrt, erwähnt ein Onkel beiläufig, dass der Ort einst von Armenierinnen und Armeniern bewohnt war. Wie Schuppen fällt es Özlem von den Augen: Auch ihre Grosseltern, selbst Angehörige einer Minderheit, haben nicht immer hier gelebt. Wurden sie deportiert? Wie hängt ihre Geschichte mit dem armenischen Genozid während des Ersten Weltkriegs zusammen?

«Wie aus einem tiefen Schlaf erwacht, beginnt sie zu forschen, bis sie endlich den Mut fasst, ihren Vater mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Die vagen Ahnungen der Kindheit – die unerklärbare Melancholie der Menschen im Dorf, die Geschichten über den roten Fluss – verdichten sich zunehmend zu einer schrecklichen Erkenntnis über Verfolgung und den Verlust von Sprache und Kultur», ist es im Klappentext des Romans zu lesen.

Erinnern nach Generationen

Was 1937 im ostanatolischen Dersim geschah – Genozid an der alevitischen Minderheit der Zazas mit Deportation der Überlebenden, strikte Assimilationspolitik und Verbot der zazaischen Sprache –, das wurde schockartig auch zu Çimens eigener Geschichte. Sie versucht sich schreibend an sie heranzutasten. Fast staunend befragt sie ihre Vergangenheit und Gegenwart nach Spuren des Unaussprechlichen.

Der Roman «Babas Schweigen» ist auf drei Zeitebenen angesiedelt: 1990 geniesst die 9-jährige Özlem ihre anatolischen Ferien mit vielen Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln, bei Joghurtsuppe und Fladenbrot. Sie beginnt über Gott und Atatürk nachzudenken und stellt die ersten Fragen. 2013 wird für die 32-Jährige zum Jahr der dämmernden Erkenntnis. Subtil und berührend erzählt sie, wie bis 2021/22 die Erinnerung auch ihren Vater, ihren Baba, erreicht und wie ihre Töchter nun ihrerseits zu fragen beginnen. Symbolisch im Zentrum stehen die Aprikosenbäume, die drei Generationen verbinden und nähren.

Özlem Çimen ist inzwischen dabei, die Sprache ihres Volkes neu zu lernen, das Zazaki. Ein Zuhörer im Publikum fasst es zusammen: «Ethnische Unterdrückung funktioniert nie: Irgendwann bricht sich die Frage nach der eigenen Herkunft und Identität Bahn, manchmal Generationen später.» (Text von Dorotea Bitterli)

 

Hinweis

Infos zu «Babas Schweigen»: www.limmatverlag.ch