Sie will eine vierte Säule für die Schweiz
This & That
Für Nachbarschaftshilfe gibt es kein Geld – aber Zeitgutschriften. Mit diesem Modell will Susanna Fassbind ein grosses Problem lösen.
Zug – Einkaufen gehen, die Fenster putzen, das Bett machen, einen Hosenknopf annähen oder den Toaster reparieren: Solch kleine, alltägliche Aufgaben werden für viele ältere Menschen zur unüberwindbaren Hürde. Enge Angehörige, die einspringen könnten, wohnen zu weit weg, der Kontakt zu den Nachbarn in immer anonymer werdenden Quartieren fehlt. Oft bleibt den Senioren nur eine Alternative: der Weg ins Altersheim. Dabei wäre ein Umzug ins Heim rein aus pflegerischen Gründen gar nicht nötig. Für Susanna Fassbind ein unhaltbarer Zustand: «Die Hälfte der Heimbewohner gehört dort gar nicht hin.» Die energische 70-jährige Zugerin hat deshalb zusammen mit Ruedi Winkler und Jörg Watter vor drei Jahren den Verein «Kiss Zeit bleibt wertvoll» ins Leben gerufen. Dessen Ziel: Eine Nachbarschaftshilfe zu etablieren, die mit Zeitgutschriften vergütet wird. Freiwillige unterstützen nicht mehr ganz selbstständige, verunfallte, kranke oder behinderte Mitmenschen jeden Alters bei der Bewältigung des Alltags, erhalten dafür aber kein Geld. Stattdessen können sie die aufgewendete Zeit wie Geld auf einem Konto sparen und später selber in Anspruch nehmen – mit dem Vorteil, dass Zeit nie an Wert verliert.
Länger in den eigenen vier Wänden
In der Stadt Luzern und im Kanton Obwalden hat der nationale Trägerverein Kiss bereits Genossenschaften initiieren können. Nun sollen Zuger Gemeinden nachziehen. «Wir haben Vertretern aus den gemeindlichen Sozialabteilungen unser Modell vorgestellt», erklärt Fassbind. Dort, wie auch in der kantonalen Direktion des Innern und bei Gesundheitsdirektor Urs Hürlimann, seien die Ideen auf ein positives Echo gestossen. Für Susanna Fassbind ist Kiss vergleichbar mit einer vierten Vorsorgesäule, die im Gegensatz zu den ersten drei geldfrei funktioniert und letztlich hohe Kosten spart. Denn mit der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe könnten ältere Menschen und solche in Notsituationen länger in den eigenen vier Wänden leben, durch die soziale Vernetzung nehme die Lebensfreude zu. Ältere Menschen blieben letztlich länger gesund und aktiv. In Zahlen ausgedrückt: Ein Heimplatz kostet eine Gemeinde je nach Pflegestufe und finanzieller Situation des Bewohners zwischen 30 000 und 100 000 Franken im Jahr. Viel Geld, das durch die Einführung von Kiss-Genossenschaften eingespart werden könnte.
Zwei Gemeinden haben Interesse
In Deutschland und Vorarlberg wird das Modell bereits seit mehreren Jahren erfolgreich propagiert und gelebt. Und die Idee kommt auch in der Zentralschweiz gut an. «Im Kanton Obwalden hat die Kiss-Genossenschaft innerhalb eines Jahres 120 Mitglieder gewonnen», sagt Fassbind. Die lokalen Genossenschaften funktionieren autonom, werden vom Trägerverein aber unterstützt. Kiss (die Abkürzung für «Keep it small and simple») stellt neben der eingetragenen Marke und dem Know-how insbesondere auch die Zeiterfassungs-Software kostenlos zur Verfügung, um die ehrenamtlichen Arbeitsstunden auf die persönlichen Zeitkonten zu übertragen. Im Kanton Zug haben zwei namentlich noch nicht bekannte Gemeinden grosses Interesse an der Idee der Kiss-Genossenschaften gezeigt. An einem öffentlichen Anlass will Susanna Fassbind nun heute Abend die Zuger Bevölkerung über Kiss informieren und sie von der Idee begeistern.
Verantwortlich für die Sackgebühr
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Susanna Fassbind für eine innovative, wenn nicht visionäre Idee einsetzt. Ende der 1980er-Jahre hat sie mit dem Verein Umwelt Zug federführend das neue Abfallmanagement mit Sackgebühren und Abfalltrennung eingeführt. Zudem hat sie für die FDP für den Regierungs-, den National- und Ständerat kandidiert. Beruflich war Fassbind als Journalistin, ETH-Dozentin, Designerin oder Dramaturgin tätig. Nun ist sie unter anderem auch noch Spezialistin für häusliche Begleitung und Betreuung und Altersfragen und das mit Herzblut. «Ich will etwas bewegen in der Welt», sagt Fassbind. Und dafür geht sie auch ungewöhnliche Wege. Um ihr Modell der Zeitvorsorge bekannt zu machen, hat sie sich bei der «Blick»-Aktion «Der achte Bundesrat – Departement für das Volk» beworben. Und das mit Erfolg, gehört sie doch zu den neun letzten Kandidaten (siehe Box). Ob sie nun die achte Bundesrätin wird, ist für die Stadtzugerin von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist ihr, dass die Kiss-Genossenschaften sich weiter durchsetzen. Und dafür will sie sich noch lange einsetzen, sagt die Stadtzugerin: «Diese Anliegen werden mich in den nächsten 20 Jahren beschäftigen.» (Silvan Meier)
HinweisInformationsveranstaltung: Heute Dienstag, 19 Uhr, Mehrzweckraum Zentrum Neustadt, Bundesstrasse 4, Zug. Weitere Infos unter www.kiss-zeit.ch