Ein 3D-Blick in Chams Geschichte

Dies & Das

,

Spiel mit der Perspektive: Das Wandbild unter der Bärenbrücke ist ein eindrückliches Raum-Zeit-Erlebnis.

  • Durch die Anordnung der Elemente und den Einbezug der Betonkonstruktion entsteht eine faszinierende Raumwirkung in Patrick «Redl» Wehrlis Gemälde unter der Bärenbrücke. (Bild Maria Schmid)
    Durch die Anordnung der Elemente und den Einbezug der Betonkonstruktion entsteht eine faszinierende Raumwirkung in Patrick «Redl» Wehrlis Gemälde unter der Bärenbrücke. (Bild Maria Schmid)

Cham – Geht man in Cham über die Bärenbrücke, so mag man sich inmitten einer typisch schweizerischen Dorfsituation wähnen. Kaum etwas würde auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass praktisch an genau dieser Stelle Welt-Industriegeschichte geschrieben worden ist.

Wenige Meter vom östlichen Brückenkopf entfernt hat der US-Unternehmer Charles Page anno 1866 die «Anglo-Swiss Condensed Milk Company» gegründet, aus der Jahrzehnte später durch Fusion der heutige Mega-Konzern Nestlé hervorgegangen ist. Cham als Standort kam Page gelegen: Einerseits lag das Dorf nicht fern von der Grossstadt Zürich, und zum anderen waren in dieser ländlichen Gegend ausreichend Kühe für den Milchbedarf vorhanden.

Der Blick in die Produktionshalle

Ferner war Cham zwei Jahre zuvor ans Eisenbahnnetz angeschlossen worden. Bereits im ersten Geschäftsjahr stellte die Firma fast 140’000 Büchsen Kondensmilch her. Nur knapp 20 Jahre später waren es jährlich bereits 16 Millionen, noch etwas später schliesslich sagenhafte 50 Millionen. Cham wurde im Volksmund scherzhaft «Milchopolis» genannt. Vom beschaulichen Bauerndorf an der Lorze aus wurde die ganze Welt mit Kondensmilch beliefert. Durch die «Anglo-Swiss» entstanden weitere – firmeneigene – Industrien in Cham, um die ganze Logistik zu stemmen und zusätzliche Geschäftszweige zu erschliessen. Das ständig erweiterte Produktionsareal von Pages Firma – von den Einheimischen «Milchsüdi» genannt – erstreckte sich nach Osten hin bis über das heutige Neudorf Center hinaus.

Heute erinnert nur noch wenig an die einstige «Anglo-Swiss», bis auf die historische Verwaltervilla mit ihrem Garten und einem Nebengebäude – und ein beeindruckendes neuzeitliches Kunstwerk unter der Bärenbrücke. Hier hat der Zürcher Urban-Art-Künstler Patrick «Redl» Wehrli (*1969) der einstigen Wiege der Milchverarbeitung ein Denkmal gesetzt: Die gesamte Wand der Flussverbauung unter der Brücke und Teile von deren Tragvorrichtung hat Wehrli in ein faszinierendes 3D-Spektakel verwandelt. Zentrum des Kunstwerkes ist eine historische Szene aus der einstigen Milchsüdi-Fabrikation. Werksarbeiterinnen und -arbeiter des 19. Jahrhunderts sind mit dem Abfüllen von Kondensmilch beschäftigt.

Neue Dimensionen im urbanen Raum

Wehrli setzt dies im Stile einer historischen Grisaille-Malerei mit Sepiastich um. Jenseits des rechteckigen Bildrandes wird das Ganze futuristisch: Unterschiedliche geometrische, meist längliche Elemente und pfeilartige Gebilde in vornehmlich Blau-, Rot- und Ockertönen scheinen aus der Wand herauszutreten und sich in Richtung des Betrachters zu bewegen. Durch ihre gewinkelte Anordnung erhält das Kunstwerk seine frappante Dreidimensionalität. Deutlich verstärkt wird der räumliche Eindruck dadurch, dass einige Elemente die mächtige Betonkonstruktion der Brücke «durchstossen» oder sich gar mit ihr vereinen.

Um den eigentlichen Produktionsprozess zu verdeutlichen, hat Wehrli rechts im Vordergrund ein grosses Glas Milch abgebildet, welches auf einer Art abstrahiertem Förderband und einer roten Linie folgend in die Produktionshalle bewegt wird und auf der anderen Seite als fertige Kondensmilch die Fabrik verlässt. Patrick Wehrlis Devise, im urbanen Raum neue Dimensionen zu schaffen und Formate zu sprengen, kommt hier unter der Chamer Bärenbrücke voll zum Tragen. Entstanden ist das Gemälde im Nachgang zur Sanierung des Lorzensteges im Frühjahr 2018. Auf rund 100 Metern ist der Milchsüdi-seitige, marod gewordene Lorzensteg instand gestellt und wieder in einen durchgängig begehbaren Zustand versetzt worden. Den neuen Abschnitt hat man «George Ham Page Steg» getauft.

Auftraggeberin für das Wandbild von Wehrli war die Einwohnergemeinde Cham, welche damit visuell an die Milchsüdi und somit an die hiesige Industrialisierung erinnern will. Die Kosten von 20000 Franken für das Kunstwerk waren im Gesamtkredit von 580000 Franken für die Stegsanierung mit einberechnet. 5000 Franken steuerte zudem Cham Tourismus an das Wandgemälde bei.

Aufwertende Wirkung Patrick «Redl» Wehrlis Milchsüdi-Reminiszenz wirkt an dieser Stelle im Dorfzentrum ungemein aufwertend, zumal Ortssituationen unter Strassenbrücken in den meisten Fällen wenig ansprechend sind und kaum zum Verweilen laden. Hier bleibt man jetzt gerne stehen und lässt das raffinierte Spiel mit den Perspektiven auf sich wirken. (Andreas Faessler)

Hinweis
In der Serie «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.