«Höllische» Häuser in Reih und Glied

Dies & Das

,

Am Anfang der «Höll» stehen die Arbeiterhäuser der ehemaligen Spinnerei am Lorzendamm. In ihrer repetitiven Einfachheit ziehen sie Blicke auf sich, geben dem Ortsbild seinen unverkennbaren Charakter und erzählen von der einheimischen Industriegeschichte.

  • Die ab 1861 errichteten «Höllhüser»für die Arbeiter der Baumwollspinnerei Baar sind in ihrer sich wiederholenden Schlichtheit charakteristische Zeitzeugen. (Bild: Stefan Kaiser)
    Die ab 1861 errichteten «Höllhüser»für die Arbeiter der Baumwollspinnerei Baar sind in ihrer sich wiederholenden Schlichtheit charakteristische Zeitzeugen. (Bild: Stefan Kaiser)

Baar – Von der Brücke über die Lorze, die das Areal der Ziegelhütte mit dem Lorzendamm verbindet, sieht man sie besonders eindrücklich: die sogenannten «Höllhüser». Typologisch identisch und in einer Reihe stehend, säumen die Häuser die Strasse, die hier eine leichte Kurve macht. So erscheinen sie wie ein Bühnenbild aus einer anderen Zeit, das einen überraschenden Anblick bietet und die Frage aufwirft: Wie ist es entstanden?

Im Zuge der rasanten Entwicklung der Baumwollindustrie wurde die grosse Spinnerei in Baar errichtet, die 1855 ihren Betrieb aufnahm. Die nach Unterägeri und Neuägeri dritte und grösste Baumwollspinnerei im Kanton Zug war wenig später und für kurze Zeit sogar die grösste der Schweiz. Die prägnanten Industriebauten, die teilweise bis heute überdauerten, kamen zwecks Energiegewinnung direkt an der Lorze und der damals neuen Strasse nach Sihlbrugg zu stehen. Die Inbetriebnahme der Spinnerei hatte weitreichende Folgen, wie Renato Morosoli, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Staatsarchiv Zug, erklärt: «Viele Arbeiterinnen und Arbeiter zogen nach Baar, dessen Bevölkerung zwischen 1850 und 1860 um zwei Fünftel wuchs. Die Zuwanderung löste einen enormen Bauboom aus, da die Nachfrage nach Wohnungen stark anstieg. Im Umkreis der Spinnerei, abseits des alten Dorfkerns, entstand ein neuer Ortsteil.»

Der Spinnereibetrieb zog verschiedene Neubauten nach sich, die insbesondere auf die Bedürfnisse der Arbeiterschaft ausgerichtet waren. So entstanden etwa eine Bäckerei, eine Wirtschaft, eine Brauerei und: 1867 die erste reformierte Kirche im katholischen Kanton Zug. Für die Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter wurden Miets- und Kosthäuser errichtet. So baute man 1860 an der Langgasse 9 das Mädchenheim der Spinnerei. 1861 und in den Jahren darauf folgten die Arbeiterhäuser am Lorzendamm, die Höllhüser. Den Namen verdanken diese ihrem Standort: Am Ausgang des Lorzentobels platziert, stehen sie am Anfang der Strecke, die bis zur Tobelbrugg führt und «Höll» genannt wird. Mit «Höll» – also «Ort der Verdammten» – bezeichnete man schlecht zugängliche, schwierig zu bearbeitende, abgelegene und verrufene Orte und Flure. Neben den Arbeiterhäusern entstanden aber auch Villen für die Direk­toren der Spinnerei, 1872 jene an der Langgasse und 1880 jene auf der Burgweid. Beide konnten als wertvolle Zeitzeugen bis heute bewahrt werden.

Mit dem Bau der Höll­hüser beauftragten die Fabrikherren Wolfgang und Alois Henggeler den Zimmermeister Christian Iten. Es entstanden zwölf direkt an der Strasse angeordnete Häuser mit rückwärtigen Gärten, Waschhäuschen und Nebengebäuden. Die einfachen Häuser im Stil des Biedermeiers mit zwei Vollgeschossen und einem Dachgeschoss unter dem Satteldach waren sehr funktional. Als Riegelkonstruktion errichtet, verschalte man sie aussen und vertäfelte sie innen. Typisch für den Biedermeierstil akzentuierte ein umlaufendes Gesims über dem Erdgeschoss die schlichte Fas­sade, und ausgesägte Schmuckformen zierten die Dachunter­seiten. In jedem Haus waren drei kleine Wohnungen geschossweise angeordnet. Aus heutiger Sicht ungewöhnlich, damals aber üblich, waren die Stuben zur Strasse hin ausgerichtet und Treppenhaus, Abort und Küche gegen den sonnenseitigen Garten hinter dem Haus. Die heute noch teilweise bestehenden Lauben auf dieser Seite entstanden erst viel später.

Ihren Arbeitern vermietete die Spinnerei die Wohnungen sehr günstig. Sie tat dies nicht ganz uneigennützig, denn so glaubte sie, ihre Arbeitskräfte noch besser an sich binden zu können. Über viele Arbeitergenerationen hinweg hat die Spinnerei die Höllhüser am Lorzendamm unterhalten und sanft ausgebaut. Im Laufe der Zeit wurde ein Haus abgebrochen und wenige neue kamen dazu. 1993 konnte im Rahmen eines Arealbebauungsplans der vollständige Erhalt der Häuser gewährleistet werden. Um die inneren Originalstrukturen zu erhalten und gleichzeitig der zeitgemässen Nutzung gerecht zu werden, wurde es möglich, an der Rückseite der Häuschen einen Wohntrakt zu ergänzen. Zudem erlaubten zwei Neubauten gegen die Spinnerei hin Mehrnutzungen für die ganze Siedlung.

Die in Reih und Glied stehenden Höllhüser an der Lorze hinter der Spinnerei in Baar sind ein unverhoffter Blickfang. Sie sind Zeitzeugen der frühen Industrialisierung im Kanton Zug und erzählen heute noch prägnant und einzigartig von ihrer Geschichte. (Brigitte Moser)

Hinweis
Mit «Hingeschaut!» gehen wir Details mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach. Frühere Beiträge finden Sie online unter www.zugerzeitung.ch/hingeschaut.