Ein Altar, ein Raub und ein grosser Zufall

Kunst & Baukultur, Brauchtum & Geschichte

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Der sogenannte Armenseelenaltar in der Kirche St. Michael in Zug ist ein eindrückliches Zeugnis des Historismus. In den 1990er-Jahren fiel er einem dreisten Kunstraub zum Opfer. Ein Fall, der eine überraschende Wendung nahm.

  • Der prachtvolle Armenseelenaltar in der Kirche St. Michael ist 1902 gestiftet worden. Bild: Matthias Jurt (Zug, 29. 2. 2024)
    Der prachtvolle Armenseelenaltar in der Kirche St. Michael ist 1902 gestiftet worden. Bild: Matthias Jurt (Zug, 29. 2. 2024)

Zug – Die Architektur und Kunst in der Zeit von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg war stark vom sogenannten Historismus geprägt. Heisst, man griff die Stile vergangener Jahrhunderte auf und interpretierte sie neu. Um die Jahrhundertwende stand in Süddeutschland ein Name ganz hoch im Kurs, wenn es um historisierende Kircheneinrichtungen ging: Franz Joseph Simmler (1846-1926), deutscher Bildhauer und Altarbauer, der in Offenburg eine renommierte Werkstatt betrieb und Mobiliar für zahlreiche neu entstandene Kirchen – vor allem im badischen Raum – herstellte.

Ein besonders eindrückliches Erzeugnis aus dem Simmler-Atelier hat um 1902 gar den Weg nach Zug gefunden: Der sogenannte Armenseelenaltar, ein neogotisches Schaustück feinster Bildhauerkunst, steht im südlichen Querhaus der Kirche St. Michael. Links an der Predella (Mittelteil) findet sich ein Familienwappen, das sich als dasjenige der Hediger identifizieren lässt. Archivierte Dokumente führen uns zum Altar-Stifter: Gottfried Hediger (1831-1903), welcher 1890 erbbedingt Besitzer der Burg Zug wurde. Bereits 1860 war Hediger jedoch von Berufes wegen nach Basel übersiedelt.

Fotografieren verboten!

In einem Brief von 1901 an den Zuger Kirchenratspräsidenten fragt Hediger, ob das «Kunstwerk» den Seitenaltären zugefügt oder im Querschiff aufgestellt werden solle. Hediger schien wegen des Altars bereits einiges an organisatorischem Aufwand betrieben zu haben, denn er äussert sich in besagtem Schreiben dahin gehend, dass er die Angelegenheit nun endlich abschliessend geklärt haben will. Hediger verfügte in einem weiteren Schreiben, dass der Altar nicht fotografiert werden dürfe, da er noch «etwas Besonderes» vorhabe. Was das hätte gewesen sein sollen, ist nicht bekannt.

Der für den Bau der Michaelskirche zuständige Architekt Karl Moser schlug schliesslich vor, den gestifteten Altar in der Taufkapelle aufzustellen – von da existiert eine alte Fotografie, jemand hat das Verbot also ignoriert. An seinen heutigen Standort ist der Altar wohl verschoben worden, als in der Taufkapelle die Kreuzigungsgruppe aus der alten Michaelskirche aufgestellt worden ist. So ist das bemerkenswerte Schaustück kirchlicher Handwerkskunst bis heute im südlichen Querhaus der Kirche zu betrachten.

Hoffen auf die Aufnahme in den Himmel

Das prächtige Retabel (Altaraufbau) steht auf einer Mensa (Unterbau) mit lateinischer Inschrift, die bereits auf Sinn und Zweck des Altars verweist. Übersetzt ist hier der Anfang des Responsoriums «Libera me» aus dem Requiem zu lesen: «Befreie mich, Herr, vor dem ewigen Tod an jenem Tage des Schreckens, wenn Himmel und Erde wanken, wenn du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.»

Der Altar ist dem Seelenheil nach dem Tode gewidmet. Es war und ist stets das Hauptmotiv von Stiftern: nach dem eigenen Ableben in den Himmel zu kommen. Die Thematik setzt sich im Bildprogramm des Altars fort: Im Mittelteil, der Predella, gewähren drei Öffnungen den Blick ins Purgatorium (Fegefeuer). In den Flammen ringen sich Verstorbene unterschiedlicher gesellschaftlicher Stände. Links an der Predella ist das genannte Hediger-Wappen zu sehen, in der gegenüberliegenden Kartusche ist die Burg Zug abgebildet.

Hauptblickfang ist das Retabel, der Altaraufbau, mit seinem aussergewöhnlichen Figurenreichtum und aufwendigen Schnitzarbeiten. Auch hier schmoren Menschen im Feuer: In einer Art Kaminarchitektur züngeln Flammen um die Figuren von Dante und Vergil – wir sind hier offenbar mitten in Dantes «Divina commedia» (Göttliche Komödie), deren Hauptdarstellerin Beatrice wir vor dem Kamin stehend sehen. Ob und inwiefern diese Szene hier wirklich mit Dantes bekanntem Literaturwerk im Zusammenhang steht, ist jedoch unklar. Flankiert wird die Darstellung von zwei grossen Figuren: Maria Muttergottes und der heilige Michael.

Über dem Kamin ist die Trinität ein weiteres zentrales Motiv: Gottvater und Jesus Christus samt Kreuz mit dem Heiligen Geist als Taube. Umspielt werden die figürlichen Motive von filigranem Dekor: Masswerk – teils aufwendig ineinander verflochten –, Fialen und Rankenwerk. Zwischen den beiden Wappenschilden ist die bekannteste Passage aus dem erwähnten Responsorium zu lesen: «Herr, gib’ ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen», ebenfalls in Latein. Eine grosse Doppel-Kreuzblume krönt das Gesamtkunstwerk.

Dass es sich beim Armenseelenaltar um eine Stiftung handelt, ist zudem am Fuss der Predella zu lesen. Dort steht: «Zur frommen Erinnerung und zum Troste der lieben Abgestorbenen Christgläubigen gestiftet». Links seitlich ist das Baujahr («Anno Domini 1902») erwähnt und rechts an der Seite die Herkunft des Altars: «Atelier für kirchliche Kunst von F.I. Simmler, Offenburg Baden».

Ein Kunstraub mit unglaublicher Fügung

1993 ist der Armenseelenaltar in der Kirche St. Michael ins Visier von Kunsträubern geraten: In der Nacht vom 11. zum 12. Februar drangen Unbekannte in die Kirche ein, beschädigten die Verglasung am Altar und entwendeten die drei Figurengruppen dahinter. Weiter liessen sie die Muttergottes und die beiden Wappenschilder mitlaufen. Der Handelswert dieser Objekte war und ist zwar nicht besonders hoch – «was den Dieben wohl nicht bewusst war», wie die damalige wissenschaftliche Mitarbeiterin der historischen Sammlung von Stadt und Kanton Zug, Mathilde Tobler, gegenüber den Medien sagte. In seiner Gesamtheit jedoch ist der Altar aus kunsthistorischer Sicht umso kostbarer.

Angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit, dass die gestohlenen Teile wieder auftauchen, zog man in Erwägung, sie reproduzieren zu lassen, was allerdings mit geschätzten 90’000 Franken Kosten unverhältnismässig teuer geworden wäre. Man sah schliesslich davon ab. Eine weise Entscheidung, denn 1995 geschah das fast Unglaubliche: Die Kantonspolizei Zug erhielt eine Nachricht aus Italien, dass möglicherweise geraubte Kunst aus Zug gefunden worden sei.

Die italienische Polizei war einer Diebesbande auf der Spur. Im Rahmen einer Razzia wurden in einem Camper in der Nähe von Ferrara in der Emilia-Romagna zahlreiche geraubte Kirchenfiguren gefunden. Eine davon trug rückseitig den Hinweis «Zug CH» – die Diebe haben ihn vermerkt. Zum Glück! Denn tatsächlich konnten die drei Figurengruppen und die Madonnenstatue dank des Gekritzels identifiziert und dem Altar in der Michaelskirche zugeordnet werden. Sie kehrten im April 1997 endlich nach Zug zurück.

Von den Wappenschildern hingegen fehlte noch jede Spur. Dass sie schliesslich ebenfalls wiedergefunden wurden, war ein noch grösserer Zufall: Am 13. Juli 1997 fanden italienische Polizeibeamte bei einer Autokontrolle die beiden Objekte. Diese landeten – man glaubt es kaum – bei derselben Dienststelle, wohin die gefundenen Figuren zwei Jahre zuvor verbracht worden waren. Dank eines Nachhakens aus Zug, ob man mittlerweile eine Spur der Wappenschilder habe, realisierten die Italiener, dass sie soeben die fehlenden Stücke aus Zug gefunden hatten.

So war der Altar nach fünf Jahren wieder vollständig – alle fehlenden Teilstücke sind im Original zurückgekehrt. Wenn das keine glückliche (oder göttliche?) Fügung ist ... (Text von Andreas Faessler)