Ein Lebenswerk wird entstaubt

Literatur & Gesellschaft

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Die Zuger Schriftstellerin Isabelle Kaiser galt einst als bekannteste Schweizerin. Heute ist ihr Werk weitgehend vergessen. Die Autorin Jana Avanzini will das mit einem Lesebuch über die besondere – und auch sonderbare – Frau ändern.

  • Isabelle Kaiser um 1905 (Bild: Sammlung Ermitage).
    Isabelle Kaiser um 1905 (Bild: Sammlung Ermitage).

Zug – Dieser Text ist in der Oktoberausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln

«Das ist doch schräg, dass ich als Nidwaldnerin bis vor wenigen Jahren noch nie von Isabelle Kaiser gehört habe, obwohl sie dort geboren wurde und auch dort starb», gibt Jana Avanzini zu bedenken.
Weder im Gymnasium noch später im Studium begegnete die Journalistin der Schriftstellerin, die Anfang des 20. Jahrhunderts als berühmteste Frau der Schweiz galt. «Im Gymnasium lasen wir praktisch nur Bücher männlicher Autoren, obwohl ich, gerade in den letzten Jahren, sehr vielen beeindruckenden Autorinnen begegnet bin, die unbedingt im Unterricht berücksichtigt werden müssten.»

Gewaltiger Erfolg
Auch Isabelle Kaiser ist eine solche. Nachdem Avanzini erstmals 2017 im Rahmen einer szenischen Lesung von der Welsch-Zug-Nidwaldner-Autorin gehört hatte, begegnete sie ihr immer wieder. «Etwa beim Recherchieren in Archiven. Erst letztens entdeckte ich im Nachlass einer Frau eine Autogrammkarte von Isabelle Kaiser.»
Kaiser, die von 1866 bis 1925 lebte, schrieb nach heutigem Wissensstand sieben Romane, 68 Novellen sowie fünf Gedichtbände. Dies zu jener Zeit mit gewaltigem Erfolg. «Kaiser füllte bei ihren Lesungen ganze Hallen. Es erschienen unzählige Artikel über sie, darunter auch Home­storys, wie man sie auch heute noch von Illustrierten kennt. Diese Frau wurde vergöttert», erzählt die 36-Jährige. Mit dem Luzerner Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler stand Isabelle Kaiser im engen Kontakt, dieser verehrte sowohl ihre Werke als auch ihre Person. Dass auch der Bundesrat nach ihrem Ableben ein Kondolenzschreiben sandte, zeigt, welche Bedeutung die Frau zu jener Zeit hatte.

Ihr Werk verschwand
Keine hundert Jahre später ist Kaisers umfassendes Lebenswerk so gut wie vergessen. «Seit den 1940ern wurde nichts mehr von und über Isabelle Kaiser publizistisch aufgelegt», sagt Avanzini etwas ungläubig. Kaisers Bücher findet man heute einzig in Literatur-Archiven und Antiquariaten. Wenn man Glück hat. «Ich gehe davon, dass das unter anderem mit der Tatsache zusammenhängt, dass Kaiser nie verheiratet war und keine direkten Nachfahren hatte, welche ihr Lebenswerk über ihren Tod hinaus würdigen konnten.»
Die gebürtige Nidwalderin beschloss, etwas gegen das lautlose Verschwinden von Kaisers Schaffen zu unternehmen. «Ich fand: Wenn χ es nichts Aktuelles von Kaiser zu lesen gibt, dann mache ich das halt. Ich stellte mich quasi in ihren Dienst.» Avanzini stürzte sich in die Archive, durchforstete Dokumente und begann, unzählige in Frakturschrift verfasste Werke abzutippen.
Entstanden ist innerhalb von zwei Jahren ein kuratiertes Lesebuch. «Denn mir war wichtig, dass man insbesondere Texte von Isabelle Kaiser liest und nicht nur über sie.» 

Ein Glücksfall
Was Avanzini jedoch fehlte, war ein Verlag. Sie schrieb verschiedene Unternehmen an und stiess auf Interesse. 
«Als ich bereits im näheren Austausch mit einem der Verlage war, erhielt ich unverhofft einen Anruf von Pro Libro.» Auf den Verlag, der sich insbesondere auf die Innerschweiz spezialisiert hat, war Jana Avanzini vorgängig noch nicht aktiv zugegangen. «Man suche nach Personen mit Expertise zu Isabelle Kaiser. Man würde gerne eine Reihe über Zentralschweizer Schriftsteller:innen machen, so auch über Kaiser.» Innert weniger Wochen entstand dadurch eine Zusammenarbeit, die Avanzini als «riesigen Glücksfall» bezeichnet.

Ohne Happy End
Zwar fokussiert sich die Herausgeberin in ihrem Buch primär auf die Werke Isabelle Kaisers. Doch allein deren Leben wäre guter Stoff für einen dramatischen Netflix-Mehrteiler. Wenn auch einer ohne Happy End.
Das Leben der Frau, die zunächst in Genf aufwuchs und später mit ihrer Familie nach Zug ins Haus ihres Grossvaters zog, war durchzogen von schmerzhaften Erlebnissen, von Tod, Krankheit und Herzschmerz. Dies, obwohl Kaiser in Zug zunächst eine glückliche Jugend verbrachte. Das Haus an der Artherstrasse nannte die Familie Bethlehem, oft schilderte Kaiser in ihren Tagebüchern diese Heimat als Stück gelobten Landes, umgeben von See, von Wind und Blumen. Die Kinder konnten herumklettern, Isabelle Kaiser spielte Theater und bediente sich der Bücher, die ihr Grossvater, ein radikal-liberaler Politiker, besass. 
Dann drehte der einst paradiesische Wind abrupt. In den 1880ern starben innert kürzester Zeit vier ihrer Familienmitglieder. Zunächst erlag Isabelle Kaisers Bruder an der Tuberkulose. Sie selbst litt ihr Leben lang an der Krankheit. Wenig später starb ihr Vater an einer Pocken­epidemie. Ihr Grossvater entschlief altershalber, und ihre Schwester – gerade erst hatte sich diese verlobt – stürzte kurz darauf aus einem Fenster. Mit ihrer Mutter zog Isabelle Kaiser als Erwachsene nach Beckenried im Kanton Nidwalden.

Das Erlebte hinausgelitten
«Seit ihrer Tuberkuloseansteckung ging es Kaiser gesundheitlich immer wieder sehr schlecht. Oft musste sie zur Kur, mehrmals erholte sie sich nur knapp», sagt Avanzini. «Einmal hatte sich bei einem solchen Aufenthalt die Falschnachricht verbreitet, die Autorin sei verstorben. Zu Hause fand sie bereits Hunderte Kondolenzschreiben vor.»
Damit nicht genug des Leidens. Auch in der Liebe gewährte ihr das Schicksal keinen Funken Glück. «Dennoch zerbrach Kaiser nicht an all den unfassbar tragischen Erlebnissen. Vielmehr scheint es mir, als habe sie diese in Arbeit und Kreativität umgewandelt. Sie hat das Erlebte ­regelrecht hinausgelitten.» Avanzini überlegt kurz, sagt dann: «Mit jeder Faser ihres Wesens war sie Künstlerin.»

Zunächst schrieb Kaiser, die ihre ersten Lebensjahre in Genf verbrachte, auf Französisch. Ab der Jahrhundertwende begann sie auch Werke in deutscher Sprache zu verfassen. Je älter sie war, desto mehr sah die Schriftstellerin im Schreiben ausserdem einen Auftrag Gottes. Wenngleich sie im regen Kontakt mit wichtiger Intellektueller ihrer Zeit stand, lebte Kaiser in ihrer «Ermitage» in Beckenried relativ zurückgezogen.

Kritik an Äusserem
Eine Frau, die vor über hundert Jahren bereits Säle mit begeisterten Fans füllte, die ihre Gedanken in Büchern festhielt und sich selber zu vermarkten wusste. Eine Frau, die nicht verheiratet war und ordentlich Geld verdiente: Das dürfte nicht allen gefallen haben.
«Tatsächlich äusserten sich Kritiker oft mehr über ihr Auftreten denn darüber, dass sie so erfolgreich schrieb. Isabelle Kaiser schien die Menschen regelrecht zu bezaubern. Man nannte sie die Gestalt gewordene Poesie», fasst Avanzini zusammen. «Sie hatte wohl manchmal ein sehr entrücktes Auftreten, wollte alles spüren und in sich aufnehmen. Das muss für viele sehr beeindruckend, für die dörfliche Bevölkerung Beckenrieds aber auch befremdlich gewesen sein.» Die unzähligen Bilder, die von Isabelle Kaiser existieren, zeigen eine anmutige, selbstbewusste Person. 
Auch Kaisers Zweisprachigkeit wurde kritisiert. «Die Romands fanden, dass in der Zentralschweiz, zwischen diesen ‹Chnebelgrinde›, wie man in Nidwalden sagen würde, keine Kunst entstehen könne.» Und hierzulande sei ihr ­vorgeworfen worden, dass sie sich bloss mit Frauenthemen beschäftige und zu wenig politisch sei.
«Schaut man genauer hin, trifft das jedoch so nicht zu.» So gebe es mehrere Novellen, in denen Kaiser sehr feinfühlig die Perspektive von Tieren einnimmt, etwa jene eines Stiers in der Arena. «Und dies in einer Zeit, als das Tierrecht kaum ein Thema war in der Gesellschaft. In einem anderen Werk schilderte sie mit viel Empathie die Geschichte eines geistig behinderten Menschen.» Avanzini weiter: «Der Vorwurf der unpolitischen Autorin war verfehlt.»

Keine Feministin ihrer Zeit
Überhaupt sei Isabelle Kaiser in vielerlei Bereichen sehr sozial gewesen. «Sie war eine Wohltäterin aus ihrem Innersten heraus, organisierte etwa schon als junge Frau Bescherungen für Arme. Auch setzte sie sich, wo sie konnte, für ihre Verwandtschaft ein.» 
Und wurde sie zwar als «Blaustrumpf», also als weibliche Intellektuelle, beschimpft, so sei Isabelle Kaiser dennoch keine Feministin ihrer Zeit gewesen. «Immer wieder äusserte sie sich dahingehend, dass die Erfüllung einer Frau im Muttersein liege.» Wenn auch nicht für sie ­selber. 
Am 1. November erscheint das Buch «Isabelle Kaiser – Ein Lesebuch» beim Pro Libro Verlag. Jana Avanzini freut sich über ihr Debüt als Herausgeberin. «Vor allem aber hoffe ich, dass ich mit dem Buch dazu beitragen kann, dass die Schriftstellerin wieder präsenter wird und insbesondere Lehrpersonen darauf aufmerksam gemacht werden, dass man mit der Klasse weit mehr als nur Hesse und Spitteler lesen kann.»

 

(Text: Valeria Wieser)