Um Mitternacht

Literatur & Gesellschaft

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GESCHICHTE VON CARLO MEIER, DER SICH ALS JURYPRÄSIDENT DES «KLUBS DER JUNGEN DICHTER» VERABSCHIEDET

  • Carlo Meier war 16 Jahre lang Jurypräsident. (Bild PD)
    Carlo Meier war 16 Jahre lang Jurypräsident. (Bild PD)

Zug – Das Erste, woran sie erkennt, dass etwas nicht stimmt, ist der Rauch. Dichte Schwaden steigen aus dem Motorraum auf.

Lisa steuert den Wagen über die Bordsteinkante auf den Gehsteig und dreht den Zündschlüssel. Rauschende Stille umfängt sie. So spät abends ist kein Mensch mehr unterwegs.

Sie wendet den Kopf zu dem jungen Mann neben ihr mit dem Riesenrucksack zwischen den Knien. «Sorry Luca, aber du hast gewusst, worauf du dich einlässt, als du dich in diese alte Kiste gesetzt hast.»

Der Autostopper nickt. Steigt aus. Streckt gähnend den Rücken durch. «Okay», sagt er. «Öffne mal die Motorhaube.»

Das tut Lisa.

Luca lässt den Qualm entweichen und beugt sich über den Motor. «Vermutlich überhitzt», meint er. «Morgen läuft er vielleicht wieder.»

«Morgen?» Lisa starrt ihn an. «Und wo soll ich übernachten? Ich habe keinen Cent in der Tasche.»

Luca hebt die Schultern. «Ich auch nicht.» Er schaut sich um. «Wir könnten uns da drüben unter die Lauben legen. Hast du einen Schlafsack dabei?»

Sie schüttelt den Kopf.

«Du kannst meinen haben.»

«Und du?»

«Ich werde schon nicht erfrieren. Komm.»

Lisa schliesst den Wagen ab und folgt Luca unter die Lauben. Sie mummelt sich in den Schlafsack ein. Das Rauschen des Flusses umhüllt sie. Nach dem langen Tag schläft sie sofort ein.

Um Mitternacht weckt sie das Gedudel eines Radios. Es kommt näher. Lisa hebt den Kopf und späht durch ihre verschlafenen Augen. Direkt vor sich sieht sie einen alten Mann mit einem Kinderwagen, aus dem die Radiomusik dudelt.

«Gefällt dir die Sendung?», fragt der Alte. «Hab ich selbst gemacht. Fünf Franken die Kassette. Mit einem Schoggitaler obendrauf. Oder lieber ein selbst geschriebenes Buch?»

Lisa ist der Mann nicht ganz geheuer. Zwar sehr freundlich und liebenswürdig, aber die ganze Erscheinung hat etwas Unheimliches, Übersinnliches. Automatisch rückt Lisa näher zu Luca. Zu ihrer Überraschung ist er hellwach.

«Du brauchst keine Angst zu haben», sagt er. «Schlaf ruhig weiter. Ich bleibe wach.»

Lisa schaut ihn an. Er will aufbleiben? Sozusagen Wache halten für sie?

Sie legt den Kopf wieder ab und schliesst die Augen. Nach einer Weile öffnet sie sie wieder.

Luca sieht sie an. Mit seinen blauen Augen.

Ihre Blicke verschmelzen im blassen Mondlicht. Und dann geschieht es. Wie durch Bluetooth verbinden sich ihre Seelen miteinander.

Als Lisa aufwacht, gehen schon erste Passanten am Fluss entlang und mustern sie unter den Lauben.

Der alte Mann mit dem Kinderwagen ist weg.

Vielleicht war er gar nie da. Vielleicht hat sie sich das alles eingebildet. Den Mann mit dem Radio und den Kassetten und dem Kinderwagen. Und Luca?

Sie blickt sich um. Luca ist noch da. Er sitzt neben ihr und schaut sie an. «Guten Morgen», sagt er. «Alles klar?»

Lisa fällt die Panne wieder ein. Gespannt fragt sie sich, ob der Motor anspringen wird. Ob sie mit Luca in ihrem uralten Käfer weiterfahren kann. «Kein bestimmtes Ziel», hat Luca beim Einsteigen gesagt. Das passt. Im Moment kann ihr die gemeinsame Reise mit ihm gar nicht lange genug werden. (Carlo Meier)