Das Zirpen der Zikaden

Musik

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Wer Zikaden zum Grooven bringt, der hat Grosses im Sinn. Der Zuger Jazz-Musiker Martial In-Albon präsentiert sein erstes Album. Es klingt verdammt aufregend.

Zug (Kanton) – Dieser Artikel ist in der April-Ausgabe (#48) des Zug Kultur Magazins erschienen (als PDF herunterladen).

Der Auftakt ist die Vertonung eines sanften Erwachens. Ruhig, melancholisch, von sphärischen Klängen umrahmt.
Es fühlt sich an wie einer dieser Sonntage, an denen nichts dagegenspricht, noch etwas länger im Bett zu verweilen. Die warmen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Ritzen der Lammellen­storen bahnen und sich wohlig auf die noch geschlossenen Augenlider legen, sind dann aber doch zu verführerisch. Sie locken mit dem Versprechen, dass ein guter Tag wartet – gut, weil man niemandem Rechenschaft schuldet. Nur sich selbst.

«Saga» heisst das Musikstück zur Geschichte. Es ist der Titeltrack des gleichnamigen Albums der Musikerformation Martial Art. Hinter dem Projekt steht der Zuger Trompeter Martial In-Albon, der sich im vergangenen August zusammen mit Philipp Saner (git), Eliyah Reichen (keyb), Bidu Rüegsegger (bg) und Nici Struchen (dr) während fünf Tagen im Tonstudio verschanzte und sein Erstlingswerk eingespielt hat. «Wir sind komplett in diese Welt eingetaucht», resümiert In-Albon und nippt am Cappuccino. Zusammen essen, unter einem Dach schlafen, gemeinsam musizieren. «Ich mochte die Energie, die uns in dieser Zeit getragen hat und vieles entstehen liess», fügt er an.

Musik für Entdecker
Entstanden ist tatsächlich einiges. Mit sechs Stücken nicht unbedingt quantitativ. Aber qualitativ hat «Saga» viel zu bieten. Das Debütalbum von Martial Art, das Mitte April im «Chicago» getauft wird, lässt sich ob seiner Dichte nur schwerlich in eine Schublade pressen. Die sphärischen Klänge zum Auftakt sind nämlich bloss angetäuscht und weichen schon bald Saners energiegeladenem Gitarrensolo, ehe In-Albons Trompetenspiel das melodische Zepter wieder übernimmt und das Quintett in ein fulminantes Schlussbouquet führt. Und so geht’s weiter. Eine gute Dreiviertelstunde lang. Hier chaotische Zustände, dort wohlklingende Akkorde, zwischendurch ein Schuss Psychedelic Rock, eine Prise Radiohead und jede Menge komplizierter Polyrhythmen. Wer Einheitsbrei sucht, wird hier nicht fündig. Ist das noch Jazz oder ist das schon Jazz? «Saga» ist jedenfalls eine Platte für Entdecker. «Man hört verschiedene Sachen», versucht In-Albon etwas umständlich zu erklären, lässt dies aber sogleich bleiben. «Man hört auf jeden Fall eine gute Band», sagt der 31-Jährige stattdessen und lacht.

Selbstfindungstrip auf Polycarbonat
Der Stolz über sein Erstlingswerk steht dem gebürtigen Unterägerer ins Gesicht geschrieben. Es sei ein grosser Schritt in seiner noch jungen Musikerkarriere, die so jung eigentlich gar nicht mehr ist. Mit elf Jahren entdeckte In-Albon das Trompetenspielen und hat das blecherne Aerophon seither nicht mehr aus seinen Händen gelegt. 2015 schloss er sein Jazz-Studium in Luzern ab. Nun die erste CD, ein Selbstfindungstrip, auf Polycarbonat gebannt. Verhältnismässig spät, wie er sagt: «Was das Produzieren von Musik angeht, bin ich wohl ein Spätzünder.»

Metalhead sprengt Genregrenzen
Geht es ums Performen, dann ist In-Albon hingegen alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Der Wahlzürcher ist ein musikalischer Tausendsassa: Blaskapelle, Popmusik, Jazz-Combos, Funk und Big Bands – Berührungsängste sind seine Sache nicht. An die Zeit als Sänger einer Metal-Band denkt er gerne zurück. Sein persönlichstes Projekt ist allerdings Martial Art, das ihn seit seinem Bachelorkonzert in wechselnden Formationen begleitet und ihm erlaubt, seinen ganz eigenen Ideen Ausdruck zu verleihen.
«Es war ein wohltuendes Gefühl, als die CDs mit der Post bei mir angekommen sind», sagt In-Albon und wirkt dabei völlig aufgeräumt. Sein Selbstbild habe sich seither verändert. Vorher war er einfach ein Typ, der Musik studiert hat. «Wenn mich heute jemand fragt, was ich mache, dann definiere ich mich klar als Musiker.»

Martial Art ist Martials Art
Obzwar im Quintett entstanden, ist Martial Art sein Ding. In-Albon ist der Kopf der Formation, der Mann am Steuer, die letzte Instanz. «Martial ist derjenige, der die Kunst produziert», so seine schlichte Erklärung für den Bandnamen. Oder auch: Musik nach Martials Art. Denn was auf «Saga» zusammenkommt, sind nicht irgendwelche fiktiven Geschichten.

Es ist die Geschichte von In-Albon. Persönlich, authentisch, echt. Gewidmet der verstorbenen Grossmutter, die einen wichtigen Part in seiner Lebensgeschichte einnimmt. «Das Album ist meine Erzählung. Deshalb ist mein Kopf auf dem Cover. Es geht um mich, um meine ersten 30 Lebensjahre. Vor allem geht es darum, dass ich mich dazu entschieden habe, diesen Weg zu gehen», sagt In-Albon und meint damit seinen Entschluss, alles auf die Karte Musik zu setzen. Fünf Tage in der Woche widmet er ganz seinem musikalischen Schaffen. An den beiden verbleibenden Tagen unterrichtet er Trompete, was ihm viel mehr gäbe als ein blosses 
finanzielles Standbein.

Das Zirpen im Oberstübchen
Dass In-Albon Notenschlüssel durch die Blutbahnen sausen, bezeugen die Kompositionen auf dem Album, die allesamt aus seiner Feder stammen. Wobei: «Vieles ist Improvisationen entsprungen», präzisiert der hochgewachsene Trompeter, der viel Wert darauf legt, in seinen Stücken den Charakter der gesamten Band zum Klingen zu bringen. Auf Gesangsparts habe er bewusst verzichtet, um dem Hörer die Interpretationsfreiheit zu lassen. «Ich hatte bei keinem Stück das Gefühl, dass Wörter die Musik stärker machen würden», sagt er. Also weg damit.

Aus Jamsessions und Alltagssituationen finden die musikalischen Ideen irgendwie den Weg in seinen Kopf. In-Albon spricht von Eingebungen und macht ein Beispiel: «Als ich für einige Zeit in New Orleans war, sass ich eines Abends auf der Veranda meines Gastgebers und lauschte dem Zirpen der Zikaden. Da flog mir plötzlich eine Melodie in meinen Kopf.»

Drama birgt Inspiration
Das Resultat ist «The Cicadas Song», das finale Stück der «Saga», das einen direkt in die schwülwarme Hitze des amerikanischen Südens teleportiert und zum Mitzirpen animiert. Es seien vielfach emotionale Achterbahnfahrten, die seinen Inspirationen vorangingen, erzählt In-Albon. So etwa der kurzfristige Absprung des Keyboarders vier Wochen vor den geplanten Studioaufnahmen, was für einigen Stress sorgte. «Ich setze mich dann jeweils ans Piano und übersetze meine Gefühlswelt in Töne. So lerne ich beim Musikmachen immer auch viel über mich selbst.»

Wilder Ritt auf Samtpfoten
Am Ende dann noch ein Versuch: «Vor kurzem vernahm ich den Ausdruck Contemporary Jazz. Vielleicht trifft es das recht gut, wenn ich die Platte schlicht als zeitgenössischen Jazz beschreibe», mutmasst der Musiker. Ist das hilfreich? Eher nicht. Etwas zwischen Avantgarde, Free Jazz und Rock vielleicht? Ein spielerisches Oszillieren zwischen samtenen Melodien und wilden Gitarrenritten? Gäbe es für In-Albons Musik eine Schublade, dann müsste sie mit «groovige Synthese» beschriftet sein.

Von Martial Art wird man definitiv noch mehr hören. «Momentan fühle ich mich so, als hätte ich alle Möglichkeiten, um das zu machen, was für mich das Richtige ist», meint In-Albon und richtet seinen Blick nach oben, als stünden seine nächsten Schritte an der Decke geschrieben. «Ich bin sehr ambitioniert», fügt er an. «Ich bin bereit, viel zu investieren, um so leben zu können.» Das klingt fast wie ein Versprechen. (Philipp Bucher)