So wurde der Chriesisturm erfunden

Brauchtum & Geschichte

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In ihrer Maturaarbeit rekonstruierte Sina Meyer die Erfindung einer Zuger «Tradition».

  • Vor den Leitern und Körben des Chriesisturms: Sina Meyer in der unteren Altstadt. Bild: Jan Pegoraro
    Vor den Leitern und Körben des Chriesisturms: Sina Meyer in der unteren Altstadt. Bild: Jan Pegoraro

Zug – «Ich würde mich als sehr traditionsinteressiert beschreiben», sagt Sina Meyer und schenkt sich ein Rivella ein. Für ihre Maturaarbeit habe sie zu Beginn das Thema der «Klausjagd» in Rotkreuz in Betracht gezogen, wo sie als Iffelenträgerin mitwirkt, berichtet die 18-jährige Zugerin an diesem Freitag in einem Café der Zuger Altstadt. Aber: «Das passte einerseits terminlich nicht, andererseits fand ich nur spärlich Quellen dazu.» Ihr Betreuer Jonas Briner (Geschichte) schlug daraufhin eine Untersuchung der «Tradition» des Chriesisturmes vor, die Sina Meyer bis dahin nur vom Hörensagen bekannt war.

Von ihrem Grossvater, den sie oft bei seinem Hobby als Imker begleitet hatte, wusste Sina Meyer, dass die Chriesi für einen rötlichen Stich im Honig sorgen können. «Ansonsten aber hatte ich keine grosse Verbindung zur Landwirtschaft», erklärt die junge Baarerin.

In ihrer 33-seitigen Arbeit zeichnete Sina Meyer schliesslich detailliert die Entstehung einer Tradition nach, die eigentlich gar keine ist – obwohl in den Medien häufig als «wiederentdeckte Tradition» beschrieben. Erst 2009 ruf nämlich der Grafiker und Kunstschaffende Ueli Kleeb das Wettrennen in der Altstadt ins Leben.

Wettbewerb als Teil von «Chriesi-Aktivismus»

In dieser Zeit, in der bereits ein Grossteil der ehemaligen Zuger Kirschbäume der Motorsäge zum Opfer gefallen war, stellte sich die Erfindung des Wettbewerbs laut Sina Meyers Analyse in eine Reihe von verschiedensten Aktionen, die als «Chriesi-Aktivismus» beschrieben werden. Diese Aktionen sollten jene Frucht wieder populärer machen, die mindestens seit dem 19. Jahrhundert gerade in der Kirschindustrie eine erhebliche Rolle im Kanton Zug spielt.

Wie ist sie bei ihrer Arbeit vorgegangen? «Die Anfänge des Rennens sind umfangreich dokumentiert, zudem konnte ich mit dem Hauptinitianten Ueli Kleeb persönlich sprechen», sagt die 18-Jährige zur Recherche. Darüber hinaus besuchte sie selber den Anlass, was sie auf Fotos festhielt. «Besonders überrascht hat mich die kurze Dauer von knapp 15 Minuten», erinnert sich die Maturandin.

Die Inspiration zur Erfindung des Chriesisturms lieferte ein Artikel dieser Zeitung – aus dem Jahre 1886. «Darin beschrieb der Autor, dass die Bevölkerung ‹ihre› Kirschbäume auf der Allmend zu einem bestimmten Tag ernten durften», erzählt Sina Meyer. Wer seine Leiter zuerst an einen Baum stellte, dem gehörten dessen Früchte.

Der Bezug zu diesem Zeitungsbericht sollte dem Thema Chriesi eine «Portion Historizität» verschaffen, liest man im Fazit der Maturaarbeit. Gleichzeitig – und das beweisen diese Zeilen – sorge die «Skurrilität» des Anlasses für Interesse bei Medienschaffenden.

Berufsziel: Erst Landwirtin, dann Agronomin

Was bleibt von der Maturarbeit? «Beeindruckt hat mich das Engagement der IG Zuger Chriesi und der Effekt des Chriesi-Aktivismus: Jeder kennt heute Zug als den Chriesikanton.»

Wie es mit dem Chriesisturm weitergeht, sei offen. Da sich am Event alle möglichen Menschen und Organisationen wie Kirschbäuerin, Politiker oder Metzger in Szene setzen könnten, bot der Anlass bis jetzt keine Angriffsfläche für erhebliche Kritik. Sina Meyer sagt: «Die Zukunft des Rennens hängt massgeblich davon ab, ob sich auch in Zukunft einzelne Akteure stark dafür engagieren – so wie Ueli Kleeb.»

Wenn Sina Meyer von ihren eigenen Zukunftsplänen spricht, kommt der Eindruck auf, dass es ihr bei dieser Arbeit «den Ärmel reingezogen hat»: Am Herbst beginnt die 18-Jährige eine verkürzte Lehre als Landwirtin, danach möchte sie Agronomie studieren. Gut möglich, dass sie sich nicht zum letzten Mal mit dem Thema Chriesi beschäftigt hat … (Text von Fabian Gubser)