Überraschungs-Fund: Groteske Zwerge verweisen nach Florenz

Brauchtum & Geschichte

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In einem Zuger Altstadthaus sind zwei bemerkenswerte Wandmalereien zum Vorschein gekommen. Sie spiegeln das höfische Leben des Barock wieder sowie die damalige Faszination für das Groteske in der menschlichen Physiognomie.

  • Säbelzieher und Geigenspieler: die Grisaillemalereien im «Kanonenhaus» nach bekanntem Vorbild. Bild: Andreas Faessler (Zug, 23. 5. 2025)
    Säbelzieher und Geigenspieler: die Grisaillemalereien im «Kanonenhaus» nach bekanntem Vorbild. Bild: Andreas Faessler (Zug, 23. 5. 2025)
  • Die Darstellungen flankieren den Durchgang zur grabenseitigen Stube im ersten Obergeschoss. Bild Andreas Faessler (Zug, 23. 5. 2025)
    Die Darstellungen flankieren den Durchgang zur grabenseitigen Stube im ersten Obergeschoss. Bild Andreas Faessler (Zug, 23. 5. 2025)
  • Jacques Callots Originalvorlagen für die beiden Darstellungen in Zug. Bilder: Metropolitan Museum of Art, New York
    Jacques Callots Originalvorlagen für die beiden Darstellungen in Zug. Bilder: Metropolitan Museum of Art, New York

Zug – Altbausanierungen sorgen mitunter für wahre Überraschungsmomente. Das war bei den Umbauarbeiten des so genannten «Kanonenhauses» in der Zuger Altstadt nicht anders. Das Gebäude am südlichen Ende der Ober Altstadt mit seiner rund 700-jährigen Geschichte ist für die Nutzung als Wohngemeinschaft modernen Ansprüchen angepasst worden. Eine von zwei überraschenden Entdeckungen war eine Wandmalerei von 1583 in der grabenseitigen Stube im ersten Obergeschoss. Sie zeigt das seltene Motiv der Wandlung vom Saulus zum Paulus und lag hinter einem historischen Täfer aus dem 17. Jahrhundert.

Eine weitere Malerei trat im Flur direkt vor demselben Raum zutage – auf je einem Putzfeld links und rechts der Eingangstür. Das besagte Zimmer ist im 16. Jahrhundert zusätzlich geschaffen worden, indem man zwei Fachwerkwände eingezogen hat. Die beiden Ausfachungsfelder lagen hinter Pavatex-Verkleidungen verborgen und waren deckend weiss getüncht. Diese Deckschicht war jedoch partiell abgeblättert und liess so Spuren dunkler Malereien erkennen. In der Folge entfernten Restauratoren vorsichtig die gesamte Tünche und legten links und rechts von der Zimmertür zwei erstaunliche Darstellungen frei: Sie zeigen je eine gedrungene Figur mit Hut – eine ist im Begriffe, einen Säbel zu ziehen, eine andere spielt Geige. Beide sind in Grisailletechnik ausgeführt, eine Malmethode, bei der ausschliesslich Grau- und Zwischentöne zur Anwendung kommen, um plastische Formen und Licht-Schatten-Wirkungen ohne Farbe darzustellen.

Das kantonale Amt für Archäologie und Denkmalpflege hat die beiden bemerkenswerten Darstellungen untersucht und festgestellt, dass es dafür exakte Vorlagen gibt. Sie entstammen einer Serie von Druckgrafiken aus dem Jahre 1622. Geschaffen hat sie der lothringische Zeichner und Kupferstecher Jacques Callot (1592–1635), der ab 1612 in Florenz in direktem Umfeld der Adelsfamilie Medici tätig war. Die italienische Theaterkultur sowie das höfische Leben prägten Callots künstlerisches Schaffen.

Die Zwergendarstellungen im Zuger Altstadthaus gehören zu Callots 21-teiligen Serie «Varie Figure Gobbi» (Bucklige Figuren) respektive «Les nains grotesques» (Groteske Zwerge). Diese Serie hat Callot geschaffen, nachdem er aufgrund des Ablebens seines Förderers Cosimo II. de’ Medici in seine lothringische Heimat Nancy zurückgekehrt war.

In der Barockzeit war das Interesse der höfischen Gesellschaft am «Grotesken» und «Kuriosen» sehr gross. Kleinwüchsige Menschen und «Krüppel» mit körperlichen Missbildungen dienten dem allgemeinen Amüsement und wurden zur persönlichen Unterhaltung des Adels an die Höfe geholt, mitunter gar mit Anstellung als fester Bestandteil des Hofstaates. Aufgrund ihres Erscheinungsbildes und ihrer Behinderungen waren diese Menschen Ziel des Spottes. Was heute aus ethisch-moralischer Sicht gemeinhin als diskriminierend und höchst verwerflich wahrgenommen wird, war damals üblicher Usus. Diese «Hofnarren» galten jedoch als loyal, weshalb sie von den Herrschaften auch geschätzt und entsprechend versorgt wurden.

Jacques Callot galt als genauer Beobachter der Gesellschaft und war als höfischer Angestellter Zeuge dieser «Zwergentradition». So verarbeitete er die Thematik in besagter Blätterserie. Es handelt sich nicht nur um Reminiszenzen an Callots Zeit am florentinischen Hof, sondern zugleich um eine Art Studie von Physiognomie und Karikatur, bei dem der Künstler sich auf die extremen Gesichts- und Körperformen fokussiert, um die Ausdrucksmöglichkeiten physischer Eigenheiten auszuloten. Wahrscheinlich beabsichtigte Callot mit seinen Zwergen, gleichzeitig zu unterhalten, zu ironisieren, seine Kunstfertigkeit zu demonstrieren und auf die grotesken Seiten der menschlichen Natur hinzuweisen — es entspricht dem barocken Spiel zwischen Ernst und Humor.

Der «Zwergenboom» breitet sich aus

Die bizarren Launen der Natur stiessen freilich nicht nur in höfischen Kreisen auf Interesse, sondern bei sämtlichen Gesellschaftsschichten. Darum wurden Publikationen wie Callots «Varie Figure Gobbi» vielfach nachgedruckt und fanden riesigen Absatz. Im 17. und 18. Jahrhundert kann von einem wahrhaftigen «Zwergenboom» gesprochen werden, der sich von Italien und Frankreich aus über ganz Europa verbreitete.

Callots Zwerge dienten als Vorlage für breites künstlerisches Schaffen. Sei es in Form von Malerei, Elfenbeinschnitzereien oder Porzellanfiguren. Die Darstellungen finden sich sogar im Formeninventar der Porzellanmanufakturen Meissen und Royal Crown Derby. Für mehrere europäische Adelssitze entstanden zudem Gartenfiguren nach Callots Vorlagen. Worauf die heute in vielen kleinbürgerlichen Haushalten zu findenden Gartenzwerge aus allerlei Materialien zurückgehen, ist somit selbsterklärend.

Zeittypische Farbgebung gibt weiteren Aufschluss

Die beiden Zwergenfiguren im Zuger «Kanonenhaus» entsprechen Callots Blättern Nummer 1 («L’homme s’apprêtant à tirer son sabre») und Nummer 12 («Le joueur de violon»), mit dem Unterschied, dass der Geigenspieler in Zug nach links anstatt – wie im Original – nach rechts schaut. Dies wohl, damit sich beide Zwerge zur Türöffnung hinwenden. Zudem hat man die Zwerge in Zug auf einen Wiesengrund gestellt.

Die Blätter Callots dürften noch im 17. oder spätestens frühen 18. Jahrhundert nach Zug gelangt sein, wie das Amt für Archäologie und Denkmalpflege im Bericht festhält. Dies sei aufgrund baugeschichtlicher und stilistischer Merkmale so anzunehmen, zumal die fragmentarisch erhaltenen roten und ockergelben Begleitlinien der Fachwerkfelder sowie die ursprünglich ockergelbe Fassung der Fachwerkhölzer in diesen Zeitraum verweisen.

Aufgrund der Feldformate erscheinen die beiden florentiner Zwerge im Zuger Altstadthaus im Vergleich zum Original leicht schlanker und etwas in die Höhe gezogen. Und der Federschmuck des «Säbelziehers» zeigt in Zug nach oben, während er in Callots Original nach vorne ins Gesichtsfeld des Dargestellten ragt.

Auf welchem Weg Callots Vorlagen nach Zug gekommen sind und wer Auftraggeber sowie Urheber der beiden Zwerge im Kanonenhaus war, bleibt ungeklärt. Möglicherweise haben sie Söldner von ihren Auslandsdiensten mitgebracht, wird im Bericht gemutmasst. So seien häufig die aktuellsten Trends, technischen Entwicklungen und auch künstlerischen Strömungen nach Zug gebracht worden. Dieser Austausch habe massgeblich zur Bereicherung der lokalen Kunst beigetragen und möglicherweise eine wichtige Rolle gespielt, dass Jacques Callots Zwergendarstellungen auch in Zug bekannt – und offenbar beliebt – waren. Text von Andreas Faessler

 

Hinweis

Die Bevölkerung kann das fertige Kanonenhaus an der Grabenstrasse 46 und somit auch die beiden Grisaillemalereien besichtigen: am Donnerstag, 5. Juni, zwischen 17 und 20 Uhr.