Literarischer Blick auf ein Multitalent

Literatura e Sociedade

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Politiker, Lehrer, Schriftsteller - Andreas Iten hat viel zu erzählen. Bei einer Matinee kommen seine Erinnerungen zum Klingen.

  • Adrian Hürlimann, Andrej Togni und Karin Wirthner (von links) lasen im Burgbachkeller Texte von Andreas Iten. (Bild Christof Borner-Keller)
    Adrian Hürlimann, Andrej Togni und Karin Wirthner (von links) lasen im Burgbachkeller Texte von Andreas Iten. (Bild Christof Borner-Keller)

Zug – Sie sind leider vergriffen, die «Zuger Landschaftsgeschichten», die Andreas Iten 1984 veröffentlichte - in dem Jahr, als der FDP-Regierungsrat zum Landammann gewählt wurde und zwei Jahre bevor er seine Karriere als Ständerat startete. Den zahlreichen Zuhörern der Matinee im Burgbachkeller wurde aber daraus vorgelesen: Und so hörten sie gestern vom Ausflug des Unterägerer Bauernsohns auf den Rossberg, zusammen mit dem Vater. Ein Gewitter erschreckt den Knaben - ja Knaben, denn dieses hochdeutsche Wort scheint passend für einen erstgeborenen Bauernsohn, der seine Heimat, das Ägerital, zwar liebt, aber schon bald die Literatur als persönliche Befreiung und geistige Offenbarung entdeckt.

Kindheitserinnerungen

Zurück zum Rossberg: Er wechsle sein Gewand bald alle Tage, stehe da wie ein Hohepriester, so Andreas Iten. Seinen Vater beschreibt er als Mann, der seine acht Kinder antreibt und sie wie Erwachsene behandelt. Doch der künftige Schriftsteller liebt sein Zuhause, die Freiheit auf dem Hof - den Spass, den es ihm bereitet, die Hühner aufzuscheuchen. Wie ein verschrecktes Huhn muss sich der Sechsjährige fühlen, als er 1942 ein Wochenende in Basel verbringen soll, bei Bekannten, in einem Reihenhaus. Die Eisenbahn, die man ihm dort zum Spielen gibt, kann ihn nicht sonderlich erheitern - und so «weinte er sich aus dem Basler Gefängnis nach Hause».

Heimweh nach dem Ägerital

Das Heimweh packt 23 Jahre später dann auch den Studenten der Psychologie, Pädagogik und Philosophie - es packt ihn diesmal in Berlin. Nachts träumt der Student vom Ägerital, das ihm «aus der Ferne wie ein gelobtes Land erschien - als Kind dachte ich, das Ägerital sei die Welt». Karin Wirthner, Schauspielerin, und Andrej Togni, Regisseur und Theaterleiter, lesen abwechselnd aus Itens Erinnerungen vor, mit individuellem Klang. Adrian Hürlimann moderiert, er hat auch die Texte ausgesucht. Hürlimann und Iten sind Kollegen beim ISSV, dem Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein. Erst diesen Herbst gab Iten nach 15 Jahren das Präsidium an Daniel Annen ab. Und so ist die Matinee auch ein Dank an den langjährigen Präsidenten. «Andreas Iten hat vieles gut in die Wege geleitet, das möchte ich weiterführen», sagt Annen und denkt da beispielsweise an die Rigi-Literaturtage.

Überraschende Auswahl

Der Autor und Geehrte selbst ist guter Dinge. Er schmunzelt über die Textauswahl Hürlimanns: Man bekomme natürlich das zu hören, was man selber nie ausgesucht hätte. Iten spielt damit auf das Kapitel «Der kleine Sünder» an, erschienen im neuesten Buch des Unterägerers, «Keine Kuh in Berlin» (2013). Auf sechs Seiten erzählt der 77-Jährige hier von den kleinen Sünden aus seiner Jugendzeit: Wie er einmal für den Vater «faustdick» den Lehrer anlügt oder wie er sich ausgerechnet in der Nacht vor der Firmung von dem «Dings-da-am-Bub» ablenken lässt. Wo doch bei der Firmung «die Seele rein sein müsse und glänzen wie der Tabernakel». Und dann: «Nichts geschah … Den Allwissenden und Allmächtigen … interessierten weder meine Ängste noch meine Sünden.»

Einige Jahre später, Iten lernt am Lehrerseminar in Schwyz, entdeckt der Seminarist im «Zimmer Nummer 5» Goethes Werke in Leder gebunden - den Dichter verehrt er bis heute und teilt mit ihm die Liebe zu Italien. Auch Rousseau verschlingt er, dessen pädagogisches Hauptwerk aus dem Jahr 1762 empfindet er als «frisch und frech, lebendig und jung». Iten wird klar: «Hinter meiner Herkunftswelt gab es also noch eine ganz andere Welt … mir war, als würde ich schweben.» Ein Flug über die Vergangenheit, den literarischen Blick des Autors auf sein Leben teilend - ein Blick auf viele bunte Parzellen von weit oben, das war die gestrige Matinee. (Susanne Holz)