Er war einmal das «Tor zur Welt»

Literatur & Gesellschaft

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Es sind Geschichten über das Leben am Rande der Zivilisation, über Gewalt und Verdrängung. Der frühere Journalist Oswald Iten hat 40 Jahre lang über indigene Völker auf der ganzen Welt berichtet. Doch mit dem Internet verlor seine Arbeit an Bedeutung.

  • Oswald Iten in seinem riesigen Archiv. (Bild Matthias Jurt)
    Oswald Iten in seinem riesigen Archiv. (Bild Matthias Jurt)

Zug – Oswald Iten hat noch alle seine Notizbücher. Sie stehen bei ihm zu Hause in einem Bücherregal, gelocht und eingeheftet. «El Salvador» steht auf den Ordnern, oder «Burma», «Guatemala», «Sudan». Die fein karierten Seiten sind voll mit einer schmucklosen Handschrift, dazwischen klemmen Briefe und Umschläge, Karten und Zettel.

Vieles darin könne er gar nicht mehr lesen, sagt Iten. Er sitzt in der Küche seines Hauses in Unterägeri, wache Augen, spitze Nase, gerade Haltung, Jeansgilet. Er habe seine Erlebnisse oft in einer Geheimsprache notiert, sagt er, mit Abkürzungen und Codewörtern. «Falls die Notizbücher in falsche Hände geraten.»

In den Notizbüchern, hier in diesem Bücherregal in Unterägeri, sind die Geschichten von indigenen Völkern gespeichert; die der sudanesischen Nuba, der brasilianischen Yanomami, der philippinischen Tasaday oder der guatemaltekischen Maya. Es sind Geschichten über ihre Rituale und Eigenheiten, aber auch über die sozialen und wirtschaftlichen Zwänge, denen sie ausgesetzt sind – wie sie ausgebeutet, verfolgt und «umerzogen» wurden.

40 Jahre lang hat der Unterägerer Journalist Oswald Iten vom Rande der Zivilisation, von Gewalt und Verdrängung berichtet. Die Filme, die er gedreht, und die Bücher und Artikel, die er geschrieben hat, waren immer auch ein Porträt des jeweiligen Landes: Iten redete mit Armeeoffizieren, Rebellenführern und Unabhängigkeitskämpfern, mit Unternehmern, Grundbesitzern und Kleinbauern.

Die Magie der Ferne

Heute, Oswald Iten ist 73 und seit rund einem Jahrzehnt pensioniert, zeugt sein Haus von dieser Zeit. Eine schmale Strasse schlängelt sich hoch zu diesem Holzhaus oberhalb von Unterägeri. Hier lebt Oswald Iten inmitten seines eigenen kleinen Museums mit Blick auf den Ägerisee.

Bevor in den 90er-Jahren das Internet aufkam und mit ihm die Möglichkeit, von überall auf der Welt Informationen abzurufen, waren Journalisten wie Oswald Iten, wenn man so will, die Tore zur Welt. Als Iten in den 70er-Jahren für grosse Schweizer Zeitungen zu schreiben begann, musste er nicht zweimal bitten, dass sie seine Artikel druckten. «Sie gingen weg wie warme Weggli», sagt Iten heute. Mit der Zeit und mit dem Internet hat sich das geändert. Die Welt ist kleiner geworden, Reisewege kürzer. «Die Magie der Ferne ist den Leuten abhandengekommen.»

2012 entdeckte Iten auf Satellitenbildern, dass das indigene Dorf Fungor in den sudanesischen Nuba-Bergen niedergebrannt worden war. Mit einem befreundeten Kameramann hätte er in einem Film den Untergang der Nuba dokumentieren wollen. Doch keine der grossen Fernsehanstalten wollte in das Projekt investieren. «Zu weit weg», habe es geheissen, sagt Iten. Das interessiere hier niemanden.

In einer Ecke seines Büros stapeln, staubig und wohl lange unberührt, Oswald Itens selbst geschriebene Bücher. «Schwarzer Sudan», heisst eines, oder «Keine Gnade für die Indianer», «Völker am Rande der Zivilisation» und «Bagdad-Google – eine Vatersuche im Irak». Iten hat von jedem ein paar Exemplare, die meisten sind noch verschweisst. Sie sind hier, weil sie sonst niemand wollte. «Ich habe die vor dem Schredder gerettet», sagt Iten. «Sie haben sich so schlecht verkauft, dass der Verlag sie verramschen musste.»

Das gescheiterte Filmprojekt und die verschweissten Bücher stehen sinnbildlich für Oswald Itens Lebenswerk, für das sich niemand mehr zu interessieren scheint. Dabei ist das, was Iten all die Jahre aus fernen Ländern zu berichten hatte, alles andere als trivial.

Keine Tänze mehr unter dem Feigenbaum in Fungor

Iten war noch keine 20 Jahre alt, als er seine erste grosse Reise unternahm. In den Schulferien hatte er ein Fresswägeli durch die SBB-Waggons geschoben und ein paar Artikel für seine Schülerzeitung geschrieben. Zweitausend Franken hatte er gespart, für drei Monate musste das reichen.

Es war 1969, der Sommer zwischen Matura und Studium, und Oswald Iten bestieg in Ägypten die 4. Klasse eines Nildampfers. Tagelang tuckerte er durch die Wüste, vorbei an den einstigen Pharaonenherrschaften, von denen sein Geografielehrer ihm erzählt hatte.

Von Ägypten flussaufwärts nach Äthiopien. Das war der Plan. Doch Äthiopien sollte er nie erreichen. Im Sudan liess er sich von der geselligen Gastfreundschaft aufhalten, die die Sudanesen dem jungen Weissen entgegenbrachten. «Damals gab’s noch Bier», sagt Iten. Damals: Bevor der radikale Islamismus Einzug hielt. Dort hat alles angefangen.

Als Iten in den Sudan kam, tobte im Süden des Landes schon seit 13 Jahren der erste von zwei Bürgerkriegen. Es gab kaum Ausländer, die das Land bereist hätten, geschweige denn Journalisten. Dank seines Seltenheitswerts hatte Iten keine Mühe, Kontakte zu knüpfen, und so kam er irgendwann in der Villa eines schweizerischen Diplomaten unter. Der besorgte ihm die Bewilligungen, die Iten zum Reisen und Fotografieren brauchte. Ohne solche Papiere hätte er sich kaum im Land bewegen können, sagt Iten. Das behördlich Erlaubte war ihm aber nie genug. «Es hat mich immer dort hingezogen, wo man eigentlich nicht hingehen dürfte.»

So landete er bei den indigenen Nuba – genauer im Dorf Fungor in den Nuba-Bergen, wo sie in runden Lehmhütten wohnten. Die Nuba waren das, was man damals ein «Naturvolk» nannte: Sie gingen traditionell nackt, schmückten ihre Haut mit Ziernarben und waren bekannt für ihre farbigen Körperbemalungen.

Oswald Iten besuchte sie immer wieder. Einmal lebte er ein Jahr bei ihnen, als er Material sammelte für seine Doktorarbeit. Er war auch in den 80er-Jahren da, als sich der zweite Bürgerkrieg im Südsudan bis in die Nuba-Berge ausweitete.

Mord und Folter im Kerker von Jayapura

In den folgenden Jahren wurden die «heidnischen» Nuba auf Geheiss der sudanesischen Regierung vertrieben, verschleppt und zu Muslimen gemacht. Zwei von Oswald Itens Fotografien geben in Kombination eins seiner stärksten Werke: Zuerst die Nuba, wie sie 1974 unter dem Feigenbaum in Fungor den traditionellen Nyertun tanzen, nackt, bemalt und eingeölt. Und dann die Nuba fast 30 Jahre später unter demselben Feigenbaum: sitzend, angezogen, muslimifiziert.

Hinter dem Büro in Oswald Itens Haus liegt sein Bilderarchiv, ein grosser Raum mit deckenhohen Bücherregalen und einem Korpus in der Mitte. Hier lagern die Bilder, die er in seinem Leben gemacht hat, ausgedruckt auf A3 oder ganz klein als Dias.

Iten hebt den Deckel einer der flachen Kartonschachteln und nimmt Bilder daraus hervor, die er im Jahr 2000 im Westteil von Neuguinea geschossen hat, als er recherchierte, wie die indigenen Papua von der indonesischen Armee unterdrückt wurden. Eins der Bilder zeigt unbewaffnete Papua. Einer von ihnen trägt eine Morgensternflagge über der Schulter, die Unabhängigkeitsflagge von Westneuguinea. Hinter ihm stehen indonesische Soldaten in Vollmontur.

Wenig später verhaften indonesische Polizisten Oswald Iten und verhören ihn neun Stunden lang wegen «unerlaubter journalistischer Tätigkeit». Sie sperren ihn ein, zusammen mit 40 anderen Insassen in einer kahlen Zelle ohne Betten und einem Loch als Toilette. Itens Festnahme ist ein Warnsignal der indonesischen Besatzungsmacht in Richtung anderer ausländischer Journalisten, die sie nicht im Land haben will.

«Mord und Folter im Kerker von Jayapura» lautet später der Titel des Artikels, in dem Oswald Iten von Knüppeln, Bambuspeitschen und Tritten berichtet, mit denen die indonesischen Polizisten die Insassen vor Itens Augen zurichteten und zuweilen töteten. Nach zwölf Tagen kommt Iten unversehrt frei, auch wegen den Bemühungen des Schweizer Botschafters.

Arbeit, die sich nie nach Arbeit angefühlt hat

Das war sein letzter grosser Einsatz ins ferne Ausland. Danach nahm Oswald Iten seine erste und letzte Festanstellung an. Bis zu seiner Pension schrieb er von Zürich aus für die Auslandseiten der NZZ.

Sein Leben als freier Reporter habe er nie vermisst, sagt er. Auch jetzt als Pensionär reise er noch viel und weit, aber er schreibe nicht mehr. Er habe nie den Trieb zum Schreiben gehabt, sagt er. «Es hat für mich eher eine Funktion erfüllt: So konnte ich meinen Interessen nachgehen.»

Ob er nicht manchmal enttäuscht sei, dass seine Bücher nicht auf mehr Anklang gestossen sind? «Das waren halt Sachbücher», sagt Iten und zuckt mit den Schultern. Der Markt sei klein. Daher: Nein, das mache ihm nichts aus. Für ihn zählt, dass sich seine Arbeit nie nach Arbeit angefühlt hat. «Ich hatte einen Zugang zur Welt, den man nur als Journalist hat.»

Dass das Filmprojekt über die Nuba hingegen gescheitert ist, daran nagt Oswald Iten noch heute. «Das wäre ich meinen Freunden schuldig gewesen.»

(Text von Linda Leuenberger)