Eine Schweizreise gegen das Burnout

Brauchtum & Geschichte

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1868 kommt Queen Victoria von England für vier Wochen in die Schweiz, um sich zu erholen. Sie besucht dabei auch den Kanton Zug, erlebt allerdings nicht nur Gutes und verewigt einen Restaurantbesuch in ihrem Tagebuch.

  • Die Queen um 1868: Sie soll der Zuger Dampfschiff-Wirtin geglichen haben. (Bild Historisches Museum Luzern)
    Die Queen um 1868: Sie soll der Zuger Dampfschiff-Wirtin geglichen haben. (Bild Historisches Museum Luzern)
  • Das Originalbild der Königin: ein malerisches Aquarell des Zugersees. (Bild Royal Collection Trust)
    Das Originalbild der Königin: ein malerisches Aquarell des Zugersees. (Bild Royal Collection Trust)
  • Das Hotel Raben in Cham: Hier fand es die Königin sehr «unpoetisch». (Bild Chamapedia)
    Das Hotel Raben in Cham: Hier fand es die Königin sehr «unpoetisch». (Bild Chamapedia)

Zug – Sie war die mächtigste Frau der Welt. 63 Jahre lang war sie Königin von England und Irland: Queen Victoria. Ihr Reich umfasste 1 Milliarde Menschen, sie hatte 9 Kinder, war in 229 Kriege und Aufstände verwickelt, überlebte 7 Attentate und 21 Kabinette, sie galt als «Grossmutter Europas», hatte 40 Enkel und 88 Urenkel, eine ganze Epoche wurde nach ihr benannt: das Viktorianische Zeitalter.

Und dennoch: Die Episode, von der hier zu erzählen ist, berichtet auch von einer gebrochenen Frau, einer verletzten, verunsicherten Königin. Es geht um ihre Reise in die Schweiz im Jahr 1868, die eine Art Flucht war vor der grossen Verantwortung und den unzähligen Pflichten, die eine Herrscherin über das British Empire zu erfüllen hat. Dabei gelangt sie auch in den Kanton Zug.

Queen Victoria befindet sich nach dem Tod ihrer Mutter und vor allem nach dem Tod ihres Gatten Prinz Albert in einem tiefen seelischen Loch. Sie leidet – so würde man es heute wohl diagnostizieren – an einem akuten Burnout.

Jetzt, da sie sich schwach und niedergeschlagen fühlt, soll eine vierwöchige Reise in die Schweiz Gesundung und Erholung bringen. Im August 1868 steht die königliche Reise nach Luzern auf dem Programm. Um die gesuchte Stille und Musse zu erreichen, reist Victoria unter dem Namen «Gräfin von Kent» und gibt damit zu verstehen, dass sie nicht als Königin begrüsst werden will.

Neugierig versammelt sich beim Bahnhof Luzern eine grosse Menge Schaulustiger, welche der englischen Königin zujubelt. Die Luzerner Stadtpolizei muss die Zuschauermenge im Zaum halten, damit sie der Queen nicht zu nahe kommt. Doch die Weitsicht begeistert die Königin, die in ihr Tagebuch schreibt: «Die Aussicht ... mit Blick über den See und davor die Stadt, umrandet von den prächtigsten Bergen & leuchtendem Grün im Vordergrund, ist ideal. Es war wirklich das, was ich erträumt hatte, von dem ich aber kaum glauben konnte, es jetzt in Wirklichkeit zu sehen!»

Ausflüge in die ganze Innerschweiz

In den folgenden Tagen und Wochen bereist sie, für eine angeschlagene Monarchin erstaunlich unternehmungslustig, die ganze Innerschweiz: Sie sieht sich die Tellskapelle an, steigt in Brunnen und Küssnacht an Land, reist auf die Rigi, zu den Mythen, nach Goldau, auf den Pilatus, zur Wallfahrtskirche Hergiswald, auf den Brünigpass und nach Engelberg. Egal, wo sich die Reisenden befinden: Ihren typisch englischen Gewohnheiten entsprechend wird punkt 17 Uhr der Afternoon Tea serviert, auch unter grössten Strapazen für das Personal, das den heissen Tee schon mal auf eine abgelegene Alpwiese tragen muss. Die Queen spaziert, reitet auf ihren Ponys, schreibt, ruht und isst. Sie nimmt sich immer wieder Zeit, um die Landschaft zu zeichnen und zu aquarellieren. Sie saugt die Landschaftsbilder gleichsam in sich auf. Unbelastet von Regierungsgeschäften und höfischem Gezänk scheint sie sich tatsächlich zu erholen.

Am Dienstag, den 18. August, kommt die Queen endlich auch in den Kanton Zug. Sie reist mit dem Schiff nach Brunnen, dann mit der vierspännigen Kutsche nach Schwyz, es regnet ein bisschen. Von dort fährt die Reisegesellschaft mit rund 10 Personen dem Lauerzersee entlang bis zum Schuttkegel des Goldauer Bergsturzes und danach nach Arth. In ihr Tagebuch schreibt sie von «diesem ganz aussergewöhnlichen & grandiosen Bergsturz», und «das Ganze erinnert an eine gewaltige Ruine.»

Eine Verwechslung zum Vorteil Zugs

Gerade vor dem Überqueren der Kantonsgrenze klart das Wetter auf, sodass ihr die Fahrt dem Zugersee entlang, durch Walchwil und Oberwil nach Zug grossen Eindruck macht, wie sie festhält: «Wir fuhren unter Bäumen – eine solch schöne Vegetation mit Walnussbäumen, Buchen usw. habe ich noch nie gesehen – den See entlang bis nach Zug, eine höchst malerische, schön gelegene alte Stadt». Aussergewöhnlich ist ihre Beschreibung der Stadt, die «einige sehr merkwürdige alte Häuser, Springbrunnen & Torbögen unter Türmen umfasst, durch die man fährt. Viele von ihnen sind mit Fresken bemalt, die Wilhelm Tell & seine Gefährten, Gesslers Tode & Arnold von Winkelried darstellen.»

Bemalte Häuser und Torbögen? Wovon spricht die Königin? Zu dieser Zeit steht einzig noch das Baarertor, durch das sie hindurchfahren muss. Doch am Sonntag nach der königlichen Durchfahrt findet das grosse eidgenössische Offiziersfest statt, wofür ganz Zug Buden und Torbögen aufgestellt und bemalt hat, unter anderem mit historischen Mythen. Und die mächtige Queen verwechselt den Budenzauber mit der Realität, sodass Zug bei der englischen Königin sehr gut wegkommt – auch wenn man von ihr, gemäss dem Bericht in der «Neuen Zuger Zeitung», «als blos durchreisend, sehr wenig merkte.»

Dafür legt der königliche Tross in Cham eine Rast ein und stoppt beim «Raben», «eine Art Raststätte auf halben Weg, in der Nähe des Bahnhofs», wie die Queen notiert, «wo wir eine ¾ Stunde warten mussten, damit sich unsere Pferde erholen konnten».

Soweit die erste, noch neutrale Beschreibung in der Sicht der Queen. Doch dann äussert sie sich kritisch: «Und wir sahen uns genötigt, unseren Tee (den wir mitgebracht hatten) in einem faden Teegarten, in der Nähe der Kegelanlage!!, zu uns zu nehmen.» Die Königin trinkt also mitgebrachten Tee und kann der Gartenwirtschaft des «Raben» nichts abgewinnen.

Es kommt noch dicker. Nochmals der (übersetzte) O-Ton der Königin: «Niemand war dort & kein Mensch kannte uns, aber es war höchst unpoetisch!»

Das sitzt! Es ist eine grosse Schmach, dass sie in Cham unerkannt bleibt und dass die Gartenwirtschaft des «Raben» von so hoher Warte als «unpoetisch» bezeichnet wird. Doch die lokale Presse weiss die königliche Kritik elegant zu parieren. Das «Zuger Volksblatt» mokiert sich nämlich darüber, dass die Königin inkognito als «Gräfin von Kent» unterwegs ist. Zuerst habe man in Cham die königliche Reisegesellschaft für eine ausländische Steiltänzertruppe gehalten. Aber weil zwei Schotten in ihren Röcken und dazu Diener wie Bodyguards um die Gaststätte herumstrichen, war allen klar, um wen es sich beim abgestiegenen Promi handelte: um die englische Queen höchstpersönlich!

Nochmals der Reporter: Er glaube «in jeder Beziehung ruhiger und ungenierter zu sein, wenn wir so viel Geld hätten.» Dann liefert der Zuger Journalist eine eingehendere Beschreibung der Queen: «Es ist eine wohlbeleibte noch blühend aussehende Dame und ich weiss sie nicht besser zu signalisieren als durch einen Vergleich mit unserer muntern Frau Wirthin auf dem Dampfschiff, ist also eine nicht mehr ganz junge, doch gut konservirte Frau.» Die Königin mit der nicht mehr ganz jungen Dampfschiff-Wirtin zu vergleichen? Angesichts des königlichen Urteils («unpoetisch») ist man hier wieder quitt.

Schliesslich spaziert der hohe Gast in Cham «bis zu dem Punkte, von dem aus Rigi, Pilatus und Schneeberge den schönsten Anblick gewähren und nahm hier eigenhändig eine Skizze». Sie ist also trotz des «unpoetischen» Teegartens von Cham so angetan, dass sie die Landschaft malerisch festhalten will. Diese Skizze ist nicht erhalten, aber ein Aquarell, das die Flanken des Zugerbergs in nuanciert temperierten Grüntönen zeigt. Es ist heute im Besitz des «Royal Collection Trust».

Auch soll die Queen «des Zuger-Kirschwassers ehrend gedacht haben», was wohl eine gewundene Formulierung für Trinken ist. Hier sei es offiziell festgehalten: Die Queen nippt also schon 1868 am Zuger Kirsch! (Michael van Orsouw)

Hinweis
Der Zuger Autor und Historiker Dr. phil. Michael van Orsouw (Bild) hat das Buch «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz.» verfasst. Für eine Serie der «Zuger Zeitung» hat er nun Geschichten mit Zuger Bezügen herausgearbeitet, die im Buch nicht oder nur am Rande vorkommen. Die nächste Folge erscheint Mitte Oktober und handelt von Kaiser Karl I., der genau vor 100 Jahren im Kanton Zug war.