Spirituelle Landschaften in herbstlicher Musik

Musik

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Nach einjähriger Coronapause und dem Einstandskonzert mit seinem neuen Dirigenten Joonas Pitkänen im Juni konnte das Stadtorchester Zug nun sein traditionelles Herbstkonzert im Theater Casino wieder in voller Besetzung realisieren.

  • Für den Solopart in Sibelius’ einzigem Violinkonzert war die Geigerin Inès Morin engagiert worden. (Bild Matthias Jurt)
    Für den Solopart in Sibelius’ einzigem Violinkonzert war die Geigerin Inès Morin engagiert worden. (Bild Matthias Jurt)

Zug – Im Flyer für sein Herbstkonzert zog das Stadtorchester Zug selbst die Parallele: So wie seine Mitglieder zwischen Schutzmassnahmen und bestmöglicher musikalischer Vorbereitung hin und her lavieren mussten, so «bewegte sich auch das Leben des jungen Estländers Arvo Pärt im Zwiespalt zwischen den Vorschriften der stalinistischen Diktatur und seinen musikalischen und religiösen Überzeugungen.»

Ein sehr zahlreiches Publikum fand sich am Morgen des ersten Adventssonntags im grossen Saal des Theater Casino ein, um Musik zu hören von drei Komponisten des 20. Jahrhunderts, in deren Werke die Natur und die Schicksale ihrer Herkunftsländer wie ein Schimmer gespiegelt sind: Arvo Pärt, Jean Sibelius und Antonín Dvořák. Für den Solopart in Sibelius’ einzigem Violinkonzert war die junge Geigerin Inès Morin engagiert worden. Unter dem sensiblen Dirigat des Finnen Joonas Pitkänen wurde gleichsam eine melancholisch-verzauberte Reise durch drei europäische Landschaften initiiert: Estland, Finnland und Böhmen.

Zehn Minuten Magie

So beginnt das Konzert: Orchester und Publikum sitzen da, erwartungsvoll, links hinten schliesst sich eine Tür, Warten, Stille, ohne Worte, Ruhe. Pitkänen lässt sich Zeit, kommt langsam herein und bringt noch mehr Stille mit, sagt nichts, hebt leicht die Hand und – es folgen zehn Minuten Magie. Über einem sogenannten «drone» oder «Bourdon», einem tiefen, summenden Grundton der Kontrabässe, folgen einander neun Akkordsequenzen, die von einem langsamen perkussiven Motiv, «Zuflucht» geheissen, unterbrochen werden. Die neun Sequenzen ähneln sich und klingeln doch jedes Mal ein wenig anders – wie die Phrasen eines Sprechgesangs oder eines Gregorianischen Chorals. Arvo Pärt hat mit «Fratres» für Streichorchester und Schlagzeug ein Stück geschrieben, in dem er eine ganz eigene, eigenartige Form entwickelte, der er den lateinischen Namen für ein kleines Geläute, Tintinnabuli, gab. Eine hypnotisierende Wirkung geht davon aus: Meditation, Versenkung, Mantra. «Augenblick und Ewigkeit streiten sich in uns», bemerkte Pärt dazu. Man ahnt den real stattgefundenen Rückzug des sensiblen Musikers in eine Schaffenspause, in musikalische Spiritualität.

Auch Jean Sibelius hatte sich 1904, nach ausschweifendem Bohemien-Leben in Helsinki, mit seiner Familie in die finnische Einsamkeit seiner Villa Ainola zurückgezogen, um sein Violinkonzert in d-Moll, op. 47 zu vollenden. Im Theater Casino beginnt Inès Morin das Stück mit einer glasklaren, tief empfundenen Melodie ihrer Solovioline – wie die Stimme eines einsamen Menschen inmitten einer schneebedeckten Landschaft unter winterlich grauem Himmel. Immer wieder erhalten ihre Solopartien Raum zwischen dem machtvollen Spiel des Orchesters. Der dritte Satz schliesslich, von Sibelius selbst als «danse macabre», Totentanz, bezeichnet, ist überschäumend ekstatisch – mit den virtuosen Kadenzen der Solistin und dem stampfenden Grundrhythmus des Orchesters, der einen Kritiker an eine «Polonaise für Eisbären» erinnerte. Da ist sie wieder: Die Landschaft, ihre Stimmung, ihr Geist. Inès Morin brilliert mitten darin mit Bogenstrichen, die so schnell sind, dass die Bewegungen ihrer Hand sich für das Auge verwischen.

Der Applaus für die Solistin ist überwältigend, die Orchestermitglieder erheben sich, Morin verneigt sich sympathisch bescheiden, blickt sich nach Pitkänen um, der zurückbleibt und ihr den Beifall überlässt. Im zweiten Teil nach der Pause zeigt er dann in Dvořáks Sinfonie Nr. 8 (G-Dur, op. 88), mit welch breiter musikalischer Farbpalette er und das Orchester aufwarten können. (Dorotea Bitterli)