Der «Holbein» von Neuheim

Kunst & Baukultur

,

Die kleine und unauffällige Kapelle an der Hinterburgstrasse birgt ein bemerkenswertes Kunstwerk.

  • Das Gemälde des toten Christus im Grab in der Neuheimer Kapelle St. Wendelin stammt aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. (Bild Andreas Faessler)
    Das Gemälde des toten Christus im Grab in der Neuheimer Kapelle St. Wendelin stammt aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. (Bild Andreas Faessler)

Zug – Das kleine Kapellchen mit einfachem Satteldach an der Strasse von Hinterburg nach Neuheim Dorf ist dem heiligen Wendelin geweiht. Es steht leicht erhöht, vom Trottoir führt eine Treppe zu seiner Tür. So unspektakulär die Wendelkapelle scheint, so bedeutend ist sie aus historischer Sicht. Ihre Geschichte reicht bis ins Spätmittelalter zurück, was für einen sakralen Kleinbau dieser Art bemerkenswert ist. Eine ungesicherte Angabe zur Errichtung nennt das Jahr 1520. Bauhistorische Untersuchungen haben ergeben, dass dies in etwa zutreffen dürfte, möglicherweise stammen die ältesten Mauerstücke gar noch aus dem 15. Jahrhundert.

Bedeutend ist nicht nur die Geschichte des Kapellenbaus für die Zuger Sakrallandschaft, ihr Inneres birgt eine kunsthistorisch wertvolle Ausstattung. Zum einen ist das Renaissance-Altarretabel aus dem frühen 17. Jahrhundert zu nennen (davon wird an dieser Stelle zu einem späteren Zeitpunkt zu lesen sein), zum anderen – und das ist unser «Fundstück» – ein einzigartiges Ölgemälde, das hier als Antependium, sprich als Frontverkleidung des Altarunterbaus dient. Es zeigt den toten Heiland im Grabe. Wer mit namhaften Altmeistern vertraut ist, wird gleich erkennen, dass die Darstellung dem bekannten Gemälde «Der Leichnam Christi im Grabe» vom Basler Maler Hans Holbein d. J. (1498–1543) nachempfunden ist. Das Meisterwerk ist um 1520 – also in etwa zur Bauzeit der Neuheimer Wendelkapelle – entstanden. Mutmasslicher Auftraggeber war der Basler Humanist Bonifaz Amerbach (1495–1562).

Entstehung in den 1740er-Jahren

Man geht davon aus, dass der Holbein-Christus als zentraler Teil eines Heiliggrabes vorgesehen war, jedoch wegen der sich anbahnenden Reformationsunruhen nie an seinen vorgesehenen Standort gelangt, sondern in Amerbach’schem Familienbesitz geblieben ist. Die Neuheimer Holbein-Replik trägt die Züge ländlicher Barockmalerei und stammt freilich von ungleich namhafter Hand. Entstanden ist das Gemälde – so schreibt der Zuger Historiker Josef Grünenfelder – in den 1740er-Jahren. Der Kirchenrat von Neuheim beauftragte damals eine Malerin, deren Name nicht vermerkt ist, für die Pfarrkirche Maria Geburt ein neues Heiliggrab zu gestalten. Solche aus mehreren Kulissenschichten bestehenden Schaubühnen wurden stets über die Osterfeiertage aufgebaut, um das biblische Geschehen zu verbildlichen. In ihrem Zentrum war bis zur Nacht auf Ostern jeweils der im Grab liegende Christus zu sehen. Im Kanton Zug hat sich in Oberwil («Hingeschaut» vom 27. März 2021) ein barockes Heiliggrab erhalten.

Es ist also davon auszugehen, dass der tote Christus in der Wendelkapelle Überbleibsel des einstigen Neuheimer Heiliggrabes ist. Die drei Öllampen über dem Leichnam, welche beim Holbein-Original fehlen, deuten darauf hin, zumal deren Abbildung in Heiliggrabdarstellungen damals üblich war. Die österliche Schaukulisse in der Neuheimer Pfarrkirche ereilte wohl das gleiche Schicksal wie die meisten anderen barocken Heiliggräber: Aus der Mode gekommen, entsorgte man sie achtlos. In Neuheim hat sich demnach das Gemälde des toten Heilandes im Grab erhalten, worauf es irgendwann in die Kapelle an der Strasse nach Hinterburg verbracht worden ist. Seit deren Restaurierung von 1978/79 dient die stimmungsvolle Darstellung als Antependium. (Andreas Faessler)