Siegeszug eines Berliner Patents

Dies & Das, Brauchtum & Geschichte

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Was Mitte des 19. Jahrhunderts grassierendem Wildplakatieren Paroli bieten sollte, erwies sich letztlich als geniale Erfindung. Auch im Kanton Zug greift man auf die Vorzüge der «Annoncir-Säulen» von Ernst Litfass zurück.

  • Bei der Eichstätte findet man eine der Zuger Litfasssäulen vor. Schlicht und zweckmässig in der Konzeption erfüllt sie die Aufgabe des «geordneten» Plakatierens. (Bild Stefan Kaiser)
    Bei der Eichstätte findet man eine der Zuger Litfasssäulen vor. Schlicht und zweckmässig in der Konzeption erfüllt sie die Aufgabe des «geordneten» Plakatierens. (Bild Stefan Kaiser)

Zug – In diesem «Hingeschaut» gebührt die Aufmerksamkeit für einmal nicht etwas Zugerischem an sich, sondern einer Erfindung, welche vor über 160 Jahren von Berlin aus allmählich die Welt eroberte und heute auch im Kanton Zug mehrfach anzutreffen ist.

Mitte des 19. Jahrhunderts florierte das politische und geschäftliche Leben in der Metropole an der Spree. In den Jahrzehnten zuvor hatten sich zahlreiche Fabriken angesiedelt, was einen enormen Bevölkerungszuwachs zur Folge hatte. Im Zuge dessen erwuchs eine der stärksten Arbeiterbewegungen der Welt. Angesichts dieser reichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der späteren Hauptstadt des Deutschen Reiches gab es viel zu verkünden und viel zu werben. Die Stadt litt zunehmend unter einer grassierenden Wildplakatierung. Grossflächig wurden Mauern und Gebäude zugekleistert, was den Behörden allmählich zum Dorn im Auge wurde.

Eine flotte Polka für die erste Säule

Da schlug der Berliner Drucker und Verleger Ernst Theodor Amandus Litfass (1816–1874), welcher sich ebenfalls an dieser Unsitte des wilden Plakatierens gestört haben soll, der Stadtverwaltung vor, auf öffentlichem Grund offizielle Anschlagstellen zu platzieren, wo kostenlos behördliche Plakate, Veranstaltungshinweise oder auch private Annoncen angebracht werden können. Litfass’ Idee war es, zylinderförmige Rundsäulen aufzustellen. Diese boten eine grosse Anschlagsfläche, ohne zu viel Raum einzunehmen und das Strassenbild zu beeinträchtigen.

Ende 1854 erhielt Ernst Litfass die Genehmigung, 100 solcher «Annoncir-Säulen» anfertigen und aufstellen zu lassen. Finanziert wurde der Auftrag von keinem Geringeren als dem Direktor des legendären Zirkus Renz, Ernst Jakob Renz (1815-1892). Die erste Säule wurde am 15. April 1855 an der Berliner Münzstrasse in Betrieb genommen. Und dies war nicht etwa ein stiller behördlicher Akt im kleinen Rahmen, sondern ging mit grossem Aufhebens vonstatten. Zahlreich erschien das Berliner Volk, um die angekündigte Neuheit mit eigenen Augen zu sehen. Der seinerzeit bekannte österreichisch-ungarische Komponist Adalbert Keler (1820-1882) hatte eigens für den feierlichen Anlass die «Ernst Litfass Annoncir Polka» geschrieben, welche im Zuge der Enthüllung vor Ort zur Uraufführung kam.

Ernst Litfass erwies sich als Unternehmer mit einem feinen Gespür für erfolgreiche Konzepte. Er sicherte sich die Rechte an der Säulenplakatierung in Berlin und wurde zum wohlhabenden Bürger. Seine Idee eroberte die Welt. Die nunmehr landläufig und später offiziell «Litfasssäule» genannte Werbesäule ist heute überall anzutreffen in mannigfaltiger Erscheinungsweise, doch die Grundidee des werbewirksamen 360°-Plakatierens auf verhältnismässig kleiner Fläche und strassenbildschonende Weise hat sich nicht geändert.

Schlichte «Denkmäler» für Herrn Litfass

Treten die Litfasssäulen zuweilen royal und pompös auf wie etwa in Wien oder Paris, so sind sie andernorts sehr schlicht und zweckmässig gehalten. Zu letzteren gehört auch der Vertreter von Zug Kultur an der Baarerstrasse, welcher den Impuls gegeben hat, die Geschichte der Litfasssäule an dieser Stelle zu erzählen. Die Stadt Zug hat an mehreren Orten solche Säulen aufgestellt, auch andere Gemeinden wie Cham oder Baar unterhalten Litfasssäulen für die kostenlose Plakatierung, welche der guten Ordnung halber an festgelegte Bestimmungen gebunden sind. Aktuell plant die Stadt Zug überdies, an fünf Standorten Litfasssäulen der neusten Generation – sogenannte «Leuchtdrehsäulen» – aufzustellen.

Jede einzelne dieser Säulen ist als eine Art Denkmal zu verstehen für einen genialen Unternehmer, der vor über 160 Jahren in Berlin eine zündende, denkbar einfache, aber hocheffiziente Idee hatte, welche sich bis heute bewährt. Ernst Litfass wurde in der Berliner Münzstrasse, wo seine erste Annoncir-Säule in Betrieb genommen worden war, ein Denkmal gesetzt, in Form einer – was wohl? – Litfasssäule. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.