Der Herr der Klangkörper
Musik
Der Zuger Chor Cantori Contenti feiert sein 35-Jahre-Jubiläum. Und hat sich dafür in die Hände eines jungen Profi-Dirigenten gegeben. Der hat einiges vor.
Zug (Kanton) – Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier gehts zu den anderen Artikeln, und hier gibts das Magazin als Pdf.
Endspurt. Dieser Ton sitzt noch nicht ganz. An der Körperhaltung liegt es! Hier fehlt die Energie, und da könnte es überzeugender klingen. Brust raus, den Kopf etwas mehr in den Nacken legen. Hört ihr den Unterschied? Das wird schon, es handelt sich ja lediglich um Nuancen. Alles in allem ist die Truppe bereit. Das Feuer lodert. Bald wird es zum Flächenbrand. Also nochmals, uno, due, tre ...
Wenn Davide Fior seinen Taktstock schwingt, geschehen magische Dinge. Einem überdimensionierten Streichholz gleich vermag das Stückchen Holz in seinen Händen Flammen zu säen. Der Chor wird zur Einheit, ein einzelner vibrierender Körper, vom Maestro in Schwingung versetzt. «Mein Ziel ist, dass das Ensemble sich öffnet und direkt zum Publikum spricht», sagt Fior. «Man darf nicht zu nahe an den Noten bleiben. Nur nach Noten zu singen, ist keine Musik.»
Es sind die letzten Probetage des Zuger Chors Cantori Contenti. Dirigent Fior stimmt ein für die Jubiläumskonzerte Mitte November. Gefeiert wird der Chor selbst, der heuer sein 35-jähriges Bestehen zelebriert. Es wird eine grosse Kiste: Rund 80 Sängerinnen und Sänger werden von einem 45-köpfigen Orchester begleitet. Für einen Chor, der in seiner ständigen Besetzung 25 Köpfe zählt, stellt dies eine aussergewöhnliche Erfahrung dar.
Aussergewöhnlich ist auch der Werdegang von Chorleiter Davide Fior. Streng genommen ist der gebürtige Italiener als Dirigent ein Novize. Vor zwei Jahren schloss er sein Studium in Chorleitung an der Zürcher Hochschule der Künste ab. Ihn deshalb als Grünling zu bezeichnen, wäre jedoch grob fahrlässig.
Senkrechtstarter in Zug gelandet
Fior weist nämlich bereits einen ansehnlichen musikalischen Werdegang aus: Er ist ausgebildeter Tenor, gibt Gesangsunterricht und leitet mehrere Orchester und Chöre, sowohl professionelle als auch Laienensembles. Seit 2017 dirigiert Fior die Cantori Contenti. «Ich kannte den Chor vorher nicht», gesteht der 36-Jährige, der zurzeit im aargauischen Stein lebt und ursprünglich aus dem norditalienischen Varese stammt. Umso erstaunter zeigt er sich von der Professionalität des gemischten Laienchors: «Von den Proben über die Auftritte bis hin zu den Vereinsstrukturen ist alles perfekt organisiert. Alle sind engagiert und zuverlässig. Zum Profistatus fehlt nicht viel», betont der Vollblutmusiker, der etwa das italienische Barockensemble Il Falcone, die Südwestdeutsche Phil-harmonie Konstanz sowie Chor und Orchester der Musikhochschule Trossingen zu seinen Stationen zählen darf.
Neuer Schwung für die zufriedenen Sänger
Beim Vorstand der Cantori Contenti – zu deutsch: die glücklichen Sänger – zeigt man sich entsprechend erfreut über die Zusammenarbeit mit dem neuen Chorleiter: «Es ist schön, einem jungen Dirigenten einen eingespielten Chor bieten zu können», sagt Vereinspräsidentin Yvonne Mäder-Schürmann. «So kann er sich auf seine musikalischen Träume konzentrieren. Andererseits ist es für uns spannend, einen jungen Dirigenten zu haben, der neue Ideen einbringt.»
Das erste gemeinsame Konzert jedenfalls sei ein Erfolg gewesen und stimme sie für die Zukunft zuversichtlich. Der Leitungswechsel, bestätigt Dirigent Fior, habe sich problemlos vollzogen: «Es hat sich schnell eine gute Beziehung zum Chor eingestellt. Wir hatten eine tolle Zeit auf der Chorreise in meiner Heimatstadt. Das war übrigens nicht meine Idee. So spektakulär ist Varese in meinen Augen ja nun auch wieder nicht. Aber das Plenum hatte entschieden», erzählt er und lacht.
Der Dirigent folgt dem Musiker
Ernst hingegen wird er, wenn er darüber spricht, was einen guten Dirigenten ausmacht: «Wichtig sind drei Punkte: Man muss wissen, wie die Stimme funktioniert. Zweitens braucht man eine gute Körpersprache. Und drittens muss man eine klare Vorstellung davon haben, was man möchte. Man kann nicht einfach in die Probe kommen und mal sehen, was geschieht.»
Es sei üblich, dass man zuerst im Chor teilhat, bevor man einen solchen leitet. Das Dirigieren käme in aller Regel nach dem Musiker-Dasein. Als Tenor und Stimmbildner weiss Fior genau, welche Töne wie dem menschlichen Stimmorgan zu entlocken sind. «Es gibt kein Instrument, das so viele Farben hat und so flexibel ist wie die Stimme», erklärt er seine Faszination fürs Singen. «Mit Stimmbildung lässt sich der Chorklang bis ins kleinste Detail gestalten. So suche ich die Schönheit. Das macht für mich den Reiz aus.»
Doch nicht nur stimmlich bewegt sich Davide Fior auf vertrautem Terrain. Als passionierter Tänzer weiss er auch über seinen Körper bestens Bescheid. «Tanzen fördert das Körperbewusstsein enorm. Heute profitiere ich sowohl als Sänger als auch als Dirigent davon.» Fior versuche, wie er sagt, die Musik mit dem Körper zu machen. «Musik ist innerliche Bewegung», umschreibt er seine Arbeitsphilosophie.
Hommage an eine grosse Französin
Beim Dirigieren gehe es darum, die richtige Energie heraufzubeschwören. Das ist gleichfalls das erklärte Ziel für das Geburtstagskonzert
der Cantori Contenti, welches Fior mit dem 100. Todesjahr der französischen Komponistin Lili Boulanger verknüpft. «Ich liebe ihre Musik», sagt er, «sie ist sehr impressionistisch und in überwältigender Weise energetisch. Bei ihrer Musik werden keine Noten transportiert, sondern Farben.»
Mit dem Zuger Carl Rütti konnte überdies ein Komponist gewonnen werden, der dem Jubiläumskonzert eine zeitgenössische Note verleiht. Die Grundidee besteht darin, dass Rütti die Begegnung mit Boulangers Musik in seine musikalische Sprache übersetzt, erklärt Fior. Daraus entstanden ist das 18-minütige Stück «Dona nobis pacem», ein versöhnliches Gegengewicht zu Boulangers düster-melancholischem Werk. Eine «Botschaft des Friedens», nennt Carl Rütti die Auftragskomposition, die ihn regelrecht in die Welt der französischen Komponistin hineingezogen habe.
Ein Werk ohne Ende
«Rüttis Komposition endet fast mit einem Fragezeichen», erläutert Dirigent Fior, der es als grosse Ehre erachtet, das Werk des Zugers uraufführen zu dürfen. «Das Stück ist nicht gelöst. Es hat kein Ende, sondern hängt irgendwo in der Schwebe. Das finde ich wahnsinnig passend.»
Noch bleiben den Cantori Contenti einige Tage, um die letzten Unebenheiten auszubügeln. «Wenn man aufgeregt ist, spielt man auf einem anderen Instrument, als wenn man das nicht ist», sagt Chorleiter Fior. «Deshalb versuche ich, in den Proben eine möglichst getreue Konzertsituation herbeizurufen.» Achtet auf die Körperhaltung! Nur wer durch den Körper musiziert, kann überzeugen. Hört ihr den Unterschied? Uno, due, tre ...
Autor: Philipp Bucher