Zeit zum Schreiben

Literatur & Gesellschaft

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Sie schreiben, und das sehr unterschiedlich. In totaler Stille. Oder auf dem Campingplatz. Drei Zuger Autor*innen erzählen von der Notwendigkeit, zu lesen und dem Vorsatz, sich nicht mehr am Unglück inspirieren zu wollen. Drei Porträts.

  • Bibi Vaplan plant was grosses mit Popcorn. (Bild: Ida Sgier)
    Bibi Vaplan plant was grosses mit Popcorn. (Bild: Ida Sgier)
  • Theres Roth-Hunkeler scheribt in der Stille. (Bild: Ayse Yavas)
    Theres Roth-Hunkeler scheribt in der Stille. (Bild: Ayse Yavas)
  • Andreas Iten schreibt einfach überall. Auch auf dem Campingplatz. (Bild: PD)
    Andreas Iten schreibt einfach überall. Auch auf dem Campingplatz. (Bild: PD)
Zug (Kanton) – Dieser Artikel ist in der März-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

So wie nun alle Reisefreudigen merken, dass es auch Abenteuer gibt, die nicht am mexikanischen Strand stattfinden müssen, sondern gleich vor der Haustüre beginnen können, legen auch wir den Fokus auf das Nahe. Lokale Literatur, hiesige Autorinnen und Autoren, die unsere Aufmerksamkeit verdient haben.
Wir besuchten sie bei ihnen zu Hause am Stadtrand, zwischen Büchermassen, und zeitgemäss über den Bildschirm. Der erste Halt: die Autorin Theres Roth-Hunkeler, die uns zu einer Tasse Chai einlädt.

Theres Roth-Hunkeler: Ein Kinderbuch fordert sie heraus
«Manche Leute denken, Schreiben habe nur mit Inspiration zu tun. Doch eigentlich geht es dabei auch um Disziplin. Will man ein Buch schreiben, kann man sich nicht nur dann hinsetzen, wenn es einem danach ist», sagt Theres Roth-Hunkeler. Sie weiss, wovon sie spricht. Kommenden März erscheint mit «Geisterfahrten» ihr sechster Roman.
Die Phase zwischen Buch­abschluss und Publikation bezeichnet sie als eigenartig. «Es ist schwierig, sich in dieser Zeit gänzlich etwas anderem zu widmen. Erst nach der Veröffentlichung eines Buches ist man richtig befreit davon.»
Kleinere Projekte kamen der Baarerin in dieser Zeit deshalb sehr gelegen. So veröffentlichte sie etwa gemeinsam mit ihrer Freundin Annelis Gerber-Halter das Werk «Lange Jahre». Zu Gemälden und Skizzen der Steinhauser Künstlerin schrieb Roth-Hunkeler kurze literarische Texte, welche den Bildern einen Herzschlag verleihen. Auch einen Blog betreibt die Autorin. Darin geht es um Haupt- und Nebensächliches: um Schnee, einen verkrüppelten Quittenbaum, ein geruchloses Seepferd. Jedenfalls vordergründig.

Absolute Ruhe
«Es gibt Autorinnen, die können im Zug oder 
im Café schreiben. Ich brauche dazu absolute Ruhe.» Die 67-Jährige arbeitet deshalb bei sich zu Hause, in dem ländlich gelegenen Haus, in dem wir uns für dieses Gespräch treffen. An einem Tag, an dem es nie richtig hell und erst recht nicht trocken wird. Dass die Welt durch Corona geschrumpft ist, sich vermehrt in den eigenen vier Wänden abspielt, bedeutet für Roth-Hunkeler keine allzu grosse Veränderung. Abgesehen von den kulturellen Veranstaltungen, die sie sehr vermisst.
«Doch finde ich, dass besonders die Leute in meinem Alter privilegiert sind. Wir erhalten eine Rente, müssen uns nicht um unseren Job sorgen. Wir haben keinen Grund zu jammern.» Statt unter die Leute geht Roth-Hunkeler noch häufiger in die Natur. Vom Haus der Schrift­stellerin ist es nicht weit bis zum nächsten Wald. «Ich verbringe viel Zeit draussen, als Tochter eines Bauern habe ich auch eine Landwirtschaftsseele.»
Aufgewachsen ist die gebürtige Luzernerin in Hochdorf, später zog sie – mit einem Umweg über Italien – nach St. allen, wo sie eine Familie gründete. Seit 16 Jahren lebt Roth-Hunkeler wieder in der Zentralschweiz, in Baar, und immer mal wieder in Berlin.

Austausch mit jungen Menschen fehlt
Bis 2018 dozierte Roth-Hunkeler an der Hochschule der Künste in Bern und am Schweize­rischen Literaturinstitut in Biel. Ob ihr diese 
Tätigkeit fehlt? «Was ich vermisse, ist der Kontakt mit den jungen Menschen. Mir gefiel der Austausch, zu hören, mit welchen Themen sich die Studierenden beschäftigten. Ich traf auf 
äusserst begabte Menschen, von denen ich viel lernte. Mich beeindruckte ihre offene Heran­gehensweise an Projekte und auch, wie sie sich untereinander vernetzten.»
Roth-Hunkeler ist im Vorstand der Literarischen Gesellschaft Zug, aktuell moderiert sie einzelne Ausgaben einer Online-Veranstaltungsreihe, in der verschiedene Verlage und Autoren im Fokus stehen. Eigentlich hätten die Anlässe im Burgbachkeller stattfinden sollen, nun werden sie jeweils über Youtube gestreamt. «Die Klickzahlen beweisen: Das Projekt funktioniert auch online.» Doch nicht in jeder Lebenssituation schätzt Roth-Hunkeler die Verschiebung ins Internet. «Ich bin froh, dass ich nicht online unterrich-
ten muss. Ich mag den direkten Austausch mit Menschen.»
Im März, nach der Publikation ihres Romans, dürfte Roth-Hunkeler den Kopf wieder ganz frei haben für neue Projekte. Welche Pläne hat sie? «Ich arbeite derzeit – zum ersten Mal – an einer Geschichte für Kinder. Ich finde es ziemlich schwierig, dabei den richtigen Ton zu finden. Kinder verstehen und spüren sehr viel.» Sie fährt fort: «Ausserdem arbeite ich für mich privat an neuen Formen, beschäftige mich etwa mit Lyrik. Auch wenn ich mein Geschriebenes noch niemandem zeige.»
Und dann, so Roth-Hunkeler, gebe es noch 
unglaublich viel zu lesen. Das tut sie nicht, wie viele in dieser Zeit, um Zuflucht zu finden. «Ich will gar nicht wegtauchen, sondern möchte Bücher aufmerksam lesen und analysieren, wie sie, abgesehen vom Inhalt, aufgebaut sind.» Genug vom Lesen bekommt sie nie. «Für mich ist Lesen wie Atmen», sagt sie beiläufig.

Andreas Iten: das Enfant terrible der FDP mit seinen 20 Romanen
«Wir können uns bei mir treffen. Ich habe die erste Impfung bereits hinter mir», sagt Andreas Iten. Zum Glück. Denn ansonsten wäre uns das Bücherparadies entgangen, in dem der fast 85-Jährige lebt. Romane, Fachbücher, Nachschlagewerke, Gedichtbände. Unter den Tausenden von Werken haben auch seine eigenen einen festen Platz. Über 20 Bücher, auf denen Itens eigener Name steht, besetzen ein Regal. Das ist wenig erstaunlich: Das Schreiben begleitet den Unterägerer bereits sein ganzes Leben lang.
Und er tut es noch immer mit Wonne. In den letzten 20 Jahren hat Iten beinah jährlich ein Werk publiziert. Bei weitem nicht nur leichte Kost. «Am Anfang der Pandemie sagte uns die Regierung, wir sollten zu Hause bleiben. Das habe ich dann auch gemacht. Dabei ist der Essay ‹Terrasophie› entstanden.» Das Büchlein ist ein Plädoyer für ein sinnliches Naturverständnis, ein Appell an die Menschen, ihr Verhältnis zur Natur zu verändern.
Iten hat in jungen Jahren neben Psychologie und Pädagogik auch Philosophie studiert. Er liebt sie noch heute, die grossen Philosophen, liest derzeit gleich drei philosophische Abhandlungen parallel, unter anderem – ziemlich passend – das Buch «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten» des Philosophen Markus Gabriel.
Dass es den Seminarlehrer 1970 in die Politik verschlug, passierte mehr zufällig denn geplant. «Ich weiss noch, wie mich der damalige Parteipräsident Bonaventura Iten ansprach, während ich vor diesem Haus Schnee geschaufelt hatte», erzählt der Freisinnige. «Man sei auf der Suche nach einem neuen Gemeindepräsidenten, sagte er mir. Zuvor hatte ich mich erfolgreich gegen eine geplante Umfahrungsstrasse eingesetzt, die unweit unseres Hauses durchgeführt hätte. Dies hatte mir einige Aufmerksamkeit verschafft.»
Warum eigentlich nicht, dachte sich das Polit-Greenhorn und wurde denn auch prompt ins Amt gewählt. Dabei blieb es nicht. Im selben Jahr gab Iten auch gleich sein Debüt im Kantonsrat. Vier Jahre später wurde der damals 38-Jährige in den Regierungsrat gewählt. 1986 ging’s für ihn nach Bern ins Stöckli.

Natur statt Autolobby
«Ich war damals das Enfant terrible der Freisinnigen. Wenn die Autolobby uns bei ihren Anlässen erklärte, weshalb wir uns unbedingt für ihre Anliegen einsetzen müssten, fühlte ich mich eingeengt. Ich habe ich mich dann in meine Zimmer zurückgezogen, um zu lesen», erinnert sich Iten. «Ausserdem setzte ich mich für die Ökologie ein, lange bevor das Thema in der 
Öffentlichkeit Gehör fand. Ich wurde damals ausgelacht.» Als Bauernsohn sei ihm die Natur jedoch schon immer wichtig gewesen. Ob sich Iten heute eher der GLP anschliessen würde? «Nein. Ich würde den Freisinnigen nicht den Rücken kehren. Ich sehe mich einfach eher auf der Linie von Ständerat Matthias Michel.»
Während des Interviews steht Iten mehrmals auf, um die Bücher hervorzuholen, die Teil seiner Erzählungen sind. So steht er denn abermals auf, als er von seiner Zeit im Bundeshaus zu 
erzählen beginnt. Als Iten zurückkommt an den Esstisch, trägt er einen dicken Ordner in den Händen. Eines von drei Stück, wie der Autor 
verrät. «Während meiner politischen Zeit habe ich viel geschrieben, meine Gedanken festgehalten, den Politbetrieb reflektiert und über Menschen geschrieben, die ich auf meinem Weg kennen gelernt habe.» Gut möglich, dass auch diese Notizen und Gedanken den Weg in ein Buch finden. Bereits heute stehen die Ordner mit seinen Tagebuchaufzeichnungen im Zuger Staatsarchiv.

Schreiben? Überall!
Iten schrieb sich bereits durch unterschied­lichste Genres. Er befasste sich mit der psychologischen Bedeutung von Sonnen in Kinderzeichnungen, mit Blochers «Albisgüetli»-Rede 1999, immer wieder auch mit seiner Heimat, dem Kanton Zug und seinem Dorf Unterägeri.
Schreiben kann Iten überall. «Einmal habe ich während der Sommerferien ein Buch auf dem Campingplatz geschrieben. Zum Missmut meiner Frau.» Seit 2004 ist Andreas Iten verwitwet. Ein weiterer Schicksalsschlag folgte drei Jahre später, als auch seine damalige Freundin verstarb. Iten begleitete sie während ihrer Krankheit. In dieser Zeit entstand Itens Roman «Der Schatten des Pfarrers». «Es ist mein schönster Roman. Es handelt sich um ein kompensierendes Buch, in welchem ich indirekt das Erfahrene aus dieser Zeit verarbeitete, auch wenn man es ihm nicht anmerkt. Das Schreiben hielt mich damals am Leben.»
Bis heute ist ihm das Schreiben ein treuer Begleiter geblieben. Während der Pandemie erschien Itens Waldroman «Der Förster», auch ein Gedichtband namens «Barfuss» erschien kürzlich.
Nun arbeite er an einem Briefroman, verrät der Autor. Wie er es als Politiker, Lehrer und Familienvater geschafft hat, die Feder nicht aus der Hand zu legen? «Wer will, findet immer Zeit zum Lesen und Schreiben», sagt Iten mit Überzeugung. Die Reihe seiner eigenen Werke, welche nebenan im Wohnzimmer stehen, unterstreicht diese Worte.

Bibi Vaplan: schreiben und Munis retten
Das Treffen mit der Songpoetin und Autorin Bibi Vaplan findet per Zoom-Call statt. Zwischen uns liegen drei Stunden Zugfahrt, die gebürtige Engadinerin lebt aktuell und aufgrund von Corona in Lumbrein. «Im Haus meiner Grossmutter», wie sie erzählt. Die hölzernen Wände, die im Hintergrund zu sehen sind und einen netten Gegenpol zur natürlichen Kühle des Online-Treffens bilden, werden von alten Fotografien geziert.
Bibi Vaplan hat bis vor einem Jahr und während vier Jahren in Zug gelebt. «Aufgrund der Corona-Situation habe ich mich ins Val Lumnezia zurückgezogen», sagt sie pragmatisch.
Projekte hat sie einige am Start. Eines sticht dabei besonders hervor. Um dieses jedoch andeutungsweise fassen zu können, muss man den Kopf frei machen. «‹Die Popcorn-Opera›», so erklärt Vaplan, «ist ein Projekt, das interdisziplinär ist, neue, künstlerische Formen sucht, keine Grenzen hat. Es ist eine Oper, die nicht nur einen Abend dauert, sondern vielleicht ganze zehn Jahre. Aktuell und bis im kommenden November befinden wir uns im Prolog», erklärt die studierte Musikerin.
In jeder Phase dieser neuartigen Oper entstehen viele einzelne Werke: musikalische, künstlerische, auch literarische und neuartige Formen. Ein erstes auf Romanisch gesungenes Lied 
namens «Crazy Popcorn 1» wurde bereits ver­öffentlicht. Ziemlich wild und poppig kommt 
es daher. Auch hat die 41-Jährige im Rahmen der «Popcorn-Opera» spontan beschlossen, das Leben zweier Munis zu retten, die damit quasi zu Opernstars werden. Es folgen künstlerische Überraschungen, im März gibt es ein Opera-Festival in Lumbrein. Eines, das Corona-kompa­tibel ist. «Während des Prologs erscheint ausserdem auch der Einstieg des Buches ‹Baby, kauf mir eine Autowaschanlage!›.» Wir bitten um 
Erklärung. Vaplan präzisiert: «Jeder Teil dieser Oper, also Prolog, Ouvertüre, erster Akt und so weiter, bildet ein literarisches Kapitel. Dieses wird letztlich zu einem Ganzen, einem Roman.» Einige Werke der Oper sind gratis zugänglich, andere, etwa der Roman, sind nur für zahlende Mit­glieder.

Nicht Schwere, sondern Leichtigkeit
Hinter dem Megaprojekt steckt ein achtköpfiges Team, fast alle Beteiligten kommen aus Zug. Was bewegt die Bündnerin, ein derart mutiges Langzeitprojekt in Angriff zu nehmen? Sie seufzt und sagt: «Ich habe schon sechs, sieben Alben produziert. Ich wiederhole mich nicht gerne. Zudem hat sich das Konsumverhalten der Gesellschaft durch die Digitalisierung stark verändert. Ich spüre die Notwendigkeit, als Künstlerin neue Formen zu erfinden.»
Tatsächlich sei es ihr designiertes Ziel, sich nicht von der Schwere, sondern von der Leichtigkeit inspirieren zu lassen. «Das ist viel schwieriger.» Gemerkt habe sie das beim Schreiben ihres ersten Buches «E las Culurs dals Pleds – Und die Farben der Worte», das 2016 im Zytglogge Verlag erschien und in dem literarische Kürzesttexte auf Rätoromanisch und Deutsch zu finden sind. «Ich habe dafür Notizen und Gedanken ver­wendet, die ich mir seit Jahren aufgeschrieben hatte. Fast alles, was traurig war, habe ich weggelassen.»
Sie fährt fort: «Die 15 Notizbücher, die ich dafür verwendet habe, habe ich danach verbrannt.» Vermissen tut sie die Bücher bis heute nicht. «Ich mag es nicht, viele Sachen zu besitzen.» Was Vaplan hingegen sehr vermisst, ist die Stadt Zug. «Ich bin damals per Zufall da gelandet. Zug kannte ich bis dahin überhaupt nicht. Doch dann kamen die Sonnenuntergänge. Der Zugerberg. Die Leute. Ich bin keine Berliner Künstlerin, die Stadt wäre mir zu gross. Ich bin eine 
Zuger Künstlerin. Auch wenn ich nicht weiss, ob ich je wieder dorthin zurückkehre.»

(Text: Valeria Wieser)