Sittlich verwahrlost und viele Affären

Brauchtum & Geschichte

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Die Zuger freuen sich darüber, dass ein ehemaliger Erzherzog Habsburgs nach Zug zieht und sogar Bürger der Stadt Zug wird. Doch bald kommt es anders, und der nicht sehr sittenstrenge Österreicher fällt in Ungnade.

  • Die halbverdeckte «Villa Wölfling» an der Artherstrasse: der stattliche Wohnsitz zwischen Zug und Oberwil. (Bild: Postkarte Bibliothek Zug)
    Die halbverdeckte «Villa Wölfling» an der Artherstrasse: der stattliche Wohnsitz zwischen Zug und Oberwil. (Bild: Postkarte Bibliothek Zug)
  • Die Villa Seeburg heute: Hier wohnte einst der lebenslustige Erzherzog. (Bild Michael van Orsouw)
    Die Villa Seeburg heute: Hier wohnte einst der lebenslustige Erzherzog. (Bild Michael van Orsouw)
  • Als er noch ordensgeschmückter Erzherzog war: Leopold in jungen Jahren. (Bild Wikiwand)
    Als er noch ordensgeschmückter Erzherzog war: Leopold in jungen Jahren. (Bild Wikiwand)
  • Von den Lebensreformern fasziniert: Wilhelmine Wölfling-Adamovic. (Bild Wikicommons)
    Von den Lebensreformern fasziniert: Wilhelmine Wölfling-Adamovic. (Bild Wikicommons)

Zug – Es ist an einem milden Tag mitten im Frühsommer, als über dem Zugersee ein dunkles Wolkenfeld aufzieht. Plötzlich entwickelt sich an diesem 19. Juni 1905 nachmittags um vier Uhr ein unerwartet heftiger Orkan. Die Sturmwirbel wüten dermassen über dem See, dass das Wasser wie von Geisterhand in den Himmel hochgezogen wird. Die sogenannte Windhose bannt einer mit dem Fotoapparat auf Zelluloid. Damals gibt es noch kaum mobile Fotoapparate und schon gar keine Smartphones mit Kamerafunktion. Doch einer hat das Geld und die Technik: Leopold Wölfling, geborener Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana. Es ist der Ururenkel von Kaiser Leopold II. und Sohn eines Grossherzogs von Toskana und einer Gräfin von Bourbon-Parma.

Im Frühsommer 1905 wohnt der prominente Fotograf Wölfling zwischen Zug und Oberwil in der Villa Seeburg am Zugersee (heute Artherstr. 38), die er dem Uhrmacher Jules Keiser für 100000 Franken abgekauft hat. Seit zwei Jahren lebt Leopold dort, und seit zwei Monaten ist er überdies Bürger der Stadt Zug.

Ein Habsburger Erzherzog als Bürger der Stadt Zug? Auch wenn es ungewohnt tönen mag, geht das damals: Wer während zweier Jahre seinen Wohnsitz in der Schweiz hat, kann sich einbürgern lassen. Bei Wölfling kommen seine persönlichen Umstände hinzu, die ziemlich aussergewöhnlich sind: Er wollte die ehemalige Prostituierte Wilhelmine Adamovic heiraten, was im Hause Habsburg sehr schlecht ankam; deshalb hatte sich Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana vom Kaiserhaus losgesagt und war in die Schweiz gezogen, und tatsächlich heiratete er seine Geliebte Wilhelmine in Veyrier bei Genf. Zudem tauschte er seinen Erzherzog-Titel gegen den bürgerlichen Namen Wölfling: So wurde aus «Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana» der gewöhnliche «Leopold Wölfling».

Als er bei der Handänderung der Villa und beim Einbürgerungsverfahren einen der bedeutendsten Zuger Anwälte engagiert, nämlich Ständerat Josef Hildebrand, fliegen ihm die Herzen der Zuger förmlich zu: Keine einzige Gegenstimme erhebt sich gegen die Einbürgerung des adeligen Prominenten. Doch das wird sich bald, bald ändern.

Verteilt Bratwürste und erntet Sympathien

In der Stadt Zug verkehrt der ehemalige Erzherzog öfters im Hotel Rigi an der Vorstadt, wo er gerne die Kegelbahn frequentiert und Mitglied eines Zuger Kegelklubs ist. Er nutzt die Nähe zu Zürich, wo er Vorlesungen in Mathematik und Astronomie an der ETH besucht, Mitglied des Schützenvereins wird und sich nicht zu schade ist, beim Knabenschiessen die Bratwürste an die Schützen zu verteilen – eine Aufgabe, die sonst «nicht gerade gesucht wird», wie die «Zuger Nachrichten» bewundernd festhalten. Überhaupt, meint die Lokalzeitung: «Bei der Zuger Bevölkerung geniesse er allgemeine Sympathie (was wir nur bestätigen können).»

Weil er zum Zeitpunkt seiner Einbürgerung bereits 37-jährig ist, wird er als gewöhnlicher Soldat der Landwehr zugeteilt. Eine Berner Zeitung wundert sich: «In dieser Eigenschaft dient ein Nachkomme des Grafen Habsburg, späteren deutschen Königs und Ahnherren der alten Dynastie Habsburg-Lothringen, dem neuen Vaterlande seiner Wahl, das die verfallene Stammburg seiner grossen Vorfahren birgt. So wandeln sich die Zeiten!» Auch im Hause Wölfling wandeln sich die Zeiten. Denn Wilhelmine Wölfling-Adamovic entdeckt von Zug aus die schrägen Lebensreformer vom Monté Verità in Ascona. Sie wird Vegetarierin, taucht tief in das reformerische Milieu ein, trägt selbstgewobene Kleiderfetzen und nimmt an spiritistischen Séancen teil. Ihr Gatte Leopold ist diesem Sammeltopf von alternativen Spleens und neuen Lebensentwürfen durchaus zugetan, auch er probiert einiges aus, was er so zuvor noch nie gesehen und erlebt hat. Er, der vorher ausschliesslich teure Anzüge trug, ist nun in legerer Sportkleidung und mit einem Vollbart zu sehen. «Sie unterliess es, sich zu frisieren, sie zog keine Wäsche mehr an, sie liess ihre ohnehin schon bescheidene Kleidung verkommen, ohne sie zu erneuern», heisst es im «Berner Intelligenzblatt», «ihre ganze Person erfuhr unter dieser prinzipiellen Vernachlässigung eine höchst peinliche Transformation, aber das Schlimmste war, dass Frau Wölfling ihren Mann zu dieser Lebensweise belehren und ihm dieselbe aufzwingen wollte. Wenn Wölfling sich diesen Versuchen entziehen wollte, gab es heftige Szenen zwischen den Ehegatten.»

Lässt sich scheiden und heiratet erneut

Dem ehemaligen Erzherzog wird die Körnchenpickerei zu viel, es kommt zum tiefgreifenden Zerwürfnis zwischen den Ehepartnern. Weil Leopold im damals sehr katholischen Zug keinen Scheidungsprozess vom Zaune brechen will, lässt er 1907 das Scheidungsverfahren nach Genf verlegen. Nach der Trennung rasiert er den Bart ab und trägt stattdessen einen «schneidig in die Höhe gezwirbelten Schnurrbart», dazu wie früher wienerische Kleidung, «aus seinem Auftreten merkt man wieder den gewesenen österreichischen Offizier heraus»..

Seine Schneidigkeit bekommen jetzt die Zuger Behörden zu spüren. Zuerst verkracht sich Wölfling mit den Zuger Steuerbehörden. Dann verlässt er die Villa Seeburg am Zugersee und verlegt seinen Wohnsitz nach Regensdorf, wo er die 30-jährige Marie Ritter heiratet – auch sie hat, wie schon ihre Vorgängerin, eine Vergangenheit im horizontalen Gewerbe.

Jetzt, da der ehemalige Erzherzog aus Zug weg ist, kommen kritische Fragen auf. Denn es taucht ein Schreiben des eidgenössischen politischen Departments auf. Dieses hatte im Hinblick auf das Einbürgerungsverfahren bereits Ende 1904 den Regierungsrat des Kantons Zug eindringlich und unverblümt gewarnt: «Der ehemalige Erzherzog hat keine schöne Vergangenheit hinter sich. Er galt in Oesterreich als sittlich verwahrloster Schuldenmacher.»

Dieser Brief wird in der Regensdorfer Lokalzeitung «Wehnthaler» veröffentlicht und schlägt ein wie eine Bombe. Die Zuger Bürger, welche einst über die Einbürgerung zu befinden hatten, wussten nichts von diesem vernichtenden Leumundszeugnis. Wer hatte da wohl seine schützende Hand über den Ex-Erzherzog gehalten?

In den Zeitungen wird nun offen von der «Affäre Wölfling» gesprochen, in der ganzen Schweiz wird die peinliche Angelegenheit ein Thema. Der Zuger Regierungsrat sieht sich genötigt, der Sache auf den Grund zu gehen. Er ordnet eine Administrativuntersuchung an, um herauszufinden, wer die Akten öffentlich gemacht hat – und nicht, um herauszufinden, wer geschlampt oder protegiert hat. Die Untersuchung verläuft im Sande, doch Wölfling will mit Zug nichts mehr zu tun haben, er wird Bürger von Regensdorf und verkauft die Villa am Zugersee. Den Schlusspunkt unter seine Zuger Episode setzt der Ex-Erzherzog, als er 1911 auf das Zuger Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht verzichtet: Darauf entlässt ihn der Zuger Regierungsrat aus dem Bürgerrecht. Süffisant meint der «Bote vom Untersee und Rhein» dazu: «Die Zuger werden nichts dagegen einzuwenden haben.» (Michael van Orsouw)

Hinweis
Der Zuger Autor und Historiker Dr. phil. Michael van Orsouw hat das Buch «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» verfasst. Für eine Serie der «Zuger Zeitung» hat er nun Geschichten mit Zuger Bezügen herausgearbeitet, die im Buch nicht oder nur am Rande vorkommen. Zu den Eskapaden von Leopold Wölfling und seiner Schwester Luise von Toskana erscheint im September van Orsouws neustes Buch «Luise und Leopold».