Augenschmaus im Hinterhaus
Dies & Das
Den Architekten Dagobert Keiser Vater und Sohn gelang mit dem Umbau des Vestibüls der Villa Villette in Cham eine architektonische Meisterleistung.
Cham – Wer kennt sie nicht, die prächtige Villa Villette in Cham. Direkt am See gelegen, mit wunderbarem Park, lädt das Restaurant zum Essen und Feiern ein. Das charakteristische Erscheinungsbild, die prunkvollen Säle und die Namen grosser Architekten lassen erahnen, dass es sich bei diesem noblen Bau um ein bauhistorisches Erbe erster Güte handelt. Und völlig unverhofft trifft man im Hinterhaus hinter den luxuriösen Sälen auf einen schlichten Raum von architektonischer Spitzenqualität: das Vestibül, die Eingangshalle.
Die Villa Villette wurde vom berühmten Architekten Leonhard Zeugheer als Sommerhaus für den Zürcher Bankier Heinrich Schulthess-von Meiss konzipiert und 1866 vollendet. 1903/04 bauten die bekannten Zuger Architekten Dagobert Keiser Vater und Sohn das Haus zum Ganzjahressitz um. Im 20. Jahrhundert folgten weitere kleinere Umbauten und Besitzerwechsel. Die Gemeinde Cham erwarb schliesslich 1981 die Liegenschaft samt Park. Gemeinde und Kanton gründeten eine Stiftung mit dem Ziel, die Villa zu restaurieren und aus ihr ein Kulturzentrum zu machen. So wurde die Villette in den Jahren 1986/87 unter der Leitung von Architekt Artur Schwerzmann sorgfältig renoviert. Der damalige Denkmalpfleger Josef Grünenfelder, der massgeblich beim Umbau mitwirkte, erinnert sich: «Es stand ja damals nicht etwa die Restaurierung, sondern der Abbruch der Villa zur Diskussion, und es war ein hartes Stück Überzeugungsarbeit zu leisten, bis erkannt wurde, dass das Ensemble von Park mit Villa und Nebengebäuden das Einmalige und Wertvolle der Villette ausmacht.» Seit dem Umbau beherbergt die Villa Villette ein Restaurant, der Park ist öffentlich.
Der Architekt Leonhard Zeugheer war stilistisch vielseitig und baute je nach Auftrag im Stil des späten Klassizismus, der Neugotik oder der Neurenaissance. So entstanden nach seinen Entwürfen zahlreiche bekannte Bauten: so etwa das Neumünster (1836–1839) und die Villa Wesendonck (1853–1857) in Zürich oder das Hotel Schweizerhof (1845) in Luzern. Die Villa Villette konzipierte Zeugheer ganz in spätklassizistischem Stil. Charakteristisch für den Bau ist seine variantenreiche Strenge, die zu einem sehr harmonischen Gesamtbild führt. Der dezente Umbau der Architekten Keiser geht sensibel auf die differenzierte Architektur Zeugheers ein, sodass deren Charakter bis heute erhalten blieb.
Von der Terrasse her durch das ehemalige Esszimmer (Bistro) kommend, sieht man zur Linken den kleinen und den grossen Saal, die einst als Esszimmer und Musiksalon dienten. Die noch heute bestehenden Grundrisse der beiden Räume sowie deren Ausgestaltung gehen weitgehend auf den Zeugheer-Bau zurück. Lässt man diese Räume links liegen, findet man sich im Hinterhaus ein und staunt. Es öffnet sich ein ausgesprochen formschöner, grosszügiger Raum: das Vestibül mit Treppenhaus. Dieser Raum wurde von den Architekten Keiser nach den absolut neusten Trends der Zeit um die Jahrhundertwende gestaltet. So öffneten sie den Raum durch hohe, oben mit flachen Korbbögen abgeschlossene Ein-, Durch- und Aufgänge. Die Gipsdecke ist mit zeittypischen, schlicht-eleganten Stuckaturen geschmückt. Der Boden besteht aus bunten Zementplatten. Das hochwertige Eichentäfer wird bis auf Kopfhöhe hochgezogen, die Sitzbank darin integriert. Und besonders hübsch: Die oberen Füllungen des Täfers sind mit Flachschnitzereien verziert, die sich auf dem Treppengeländer fortsetzen. Ganz im zeitgenössischen Jugendstil gehalten, sind sie rot hinterlegt und zeigen Wald- und Wiesentiere in einem Blätterwald. Hier hat sich der damalige Hausbesitzer Heinrich Carl Vogel eine kleine Spielerei erlaubt und sich ein Denkmal gesetzt: Er war leidenschaftlicher Jäger.
Die offensichtliche Noblesse der Villa Villette zieht einen in den Bann. So sehr, dass man im ersten Moment den schlichten Eingangsbereich im Hinterhaus beinahe übersieht. Im zweiten Moment jedoch eröffnet sich hier ein Raum von bestechender Schönheit, der in seiner architektonischen Klarheit und Leichtigkeit die noblen Sälen im Vorderhaus überstrahlt. Ein Blick ins Hinterhaus lohnt sich immer – und hier ganz besonders. (Brigitte Moser, Kunsthistorikerin)
HinweisMit «Hingeschaut!» gehen wir wöchentlich mehr oder weniger auffälligen Details mit kulturellem Hintergrund im Kanton Zug nach. Frühere Beiträge finden Sie unter www.zugerzeitung.ch/hingeschaut