Wie die Schule die Schlacht vermittelt
Dies & Das
Die Schweiz feiert 700 Jahre Morgartenkrieg und damit einen Mythos, der weitgehend entzaubert ist. Ein neues Lehrmittel soll dem Rechnung tragen.
Zug – «Lasst hören aus alter Zeit, von kühner Ahnen Heldenstreit, von Speerwucht und wildem Schwertkampf, von Schlachtstaub und heissem Blutdampf.» So beginnt das Sempacherlied, dessen Text Heinrich Bosshard um das Jahr 1836 herum geschrieben hat. Der Schlachtgesang könnte genauso gut für den Morgartenkrieg gelten. Der Einstieg lässt erahnen, was folgt: Ein Heldenepos, ein Hochgesang auf Arnold Winkelried und alle Eidgenossen, die sich gegen das Joch der Habsburger auflehnen und einen gerechten Sieg im Befreiungskampf erringen. «Lasst hören aus alter Zeit» ist auch der Titel einer Reihe von historischen Heften, die Anfang der 1960er-Jahre geschrieben und jahrzehntelang im Unterricht als Lehrmittel verwendet wurden. «Geschichte wird bei 10- bis 14-jährigen Buben und Mädchen unserer Volksschule nur dann Begeisterung wecken, wenn die anschauliche, spannende und ausführliche Erzählung im Mittelpunkt steht», schreiben die Herausgeber im Umschlag des Bands 7 «Bluttaufe am Morgarten, Arnold Winkelried, Schlacht bei Näfels». Was folgt, ist genau das, was die Herausgeber versprechen: Es sind Geschichten und nicht Geschichte. «Geht unerschrocken dem Feind entgegen und in den Tod, wenn es sein muss!» Das soll der Schwyzer Landammann seinen «Alpensöhnen» vor der Schlacht gesagt haben. Eine Schlacht, die gemäss der Schilderung im Geschichtsbuch für Primarschüler eine blutige Angelegenheit, ein richtiges Gemetzel war (siehe Auszug unten links).
Die Legende vom Befreiungskrieg
«Lasst hören aus alter Zeit» vermittelt die Sicht des 19. Jahrhunderts auf die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft, die sich im Bild am Schwyzer Rathaus exemplarisch widerspiegelt. Mit den (spärlichen und grösstenteils mehrere Jahrzehnte nach der Schlacht entstandenen) Quellen wird grosszügig umgegangen, jedes Wort wird für bare Münze genommen. Weitgehend gestützt wird diese Lesart in der Schwyzer Festschrift zur 650-Jahr-Feier der Schlacht. Vereinfacht gesagt werden die «grossen Ereignisse» der Schweizer Geschichte wie die Sage von Wilhelm Tell, der Rütlischwur oder die Schlacht bei Morgarten als Ausdruck des unbändigen Freiheitswillens der Eidgenossen, der Triebfeder jeglichen Handelns sei, dargestellt.
Doch diese Befreiungslegende wurde zusehends als das hingestellt, was sie ist: Eine Konstruktion der Vergangenheit, die vom 16. bis 19. Jahrhundert geschaffen wurde. Ausgelöst hat den Feldzug des habsburgischen Herzogs Leopold gemäss dieser Überlieferung ein Streit um Weideland des Klosters Einsiedeln. Die Schwyzer hätten sich für ihre Rechte eingesetzt (bei einem Überfall auf das Kloster auch mit Mord und Totschlag). Diese monokausale Deutung ist überholt. Leopold habe vielmehr Präsenz markiert, weil das Haus Habsburg mit dem bayerischen Stamm der Wittelsbacher um die deutsche Königskrone kämpfte, so eine weitere Deutung. Der mittlerweile verstorbene Geschichtsprofessor Roger Sablonier hat in seinem Werk «Gründungszeit ohne Eidgenossen» (erschienen 2008) einen Erbschaftsstreit zwischen den Habsburgern und dem Grafen Werner von Homberg als weiteren Kriegsgrund aufgeführt.
Die Debatte über Ursachen und Hintergründe des Morgartenkriegs findet schon früh auch Niederschlag in den Schulbüchern. Schon das Heimatbuch «Zugerland», das die Erziehungsdirektion Anfang der 1980er-Jahre herausgegeben hat, geht nüchterner mit den Ereignissen bei Morgarten um. Das Schlachtgeschehen ist nur zwei Sätze, dafür einen detaillierten und kaum belegbaren Schlachtplan wert (siehe Auszug unten rechts).
Wirklich weg von den Mythen kommt 1986 der Zürcher Mittelschullehrer Hans Ruedi Müller. «Als ich im Jahre 1965 meinen Schülern an Ort und Stelle den Ablauf dieses denkwürdigen Kampfes schilderte, geschah dies im Glauben an die Unfehlbarkeit unserer Geschichtsbücher. Der Warnpfeil des Hünenbergers über die Letzi bei Arth, das Gespräch zwischen Herzog Leopold und seinem Narren und die zu Tale donnernden Stein- und Baumlawinen hinterliessen bei den jungen Zuhörern einen nachhaltigen Eindruck», schreibt er im Vorwort seines Morgartenhefts. Auf diese Legenden verzichtet er, stattdessen zitiert er eine Vielzahl von Quellen zum Morgartenkrieg und ordnet sie kritisch ein.
Mehr als eine «Wahrheit»
Müllers Werk ist für Gymnasiasten gedacht und für die Primarschule oder die Oberstufe allerdings kaum geeignet, auch sonst findet sich kaum Material. «Es besteht ein Vakuum, was Lehrmittel angeht», bestätigt Judith Arnold, Leiterin der fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Studien an der Pädagogischen Hochschule Schwyz. Viele Lehrer griffen deshalb auf alte Lehrmittel zurück, «die noch im Bewusstsein der geistigen Landesverteidigung entstanden sind». Das stellt auch Marco Sigg fest. Der neue Direktor des Museums Burg Zug entwickelt zusammen mit Kilian Grütter im Auftrag des Organisationskomitees «Morgarten 700 Jahre Abenteuer Geschichte» ein neues Lehrmittel. «Als wir Lehrer eingeladen haben, um mit ihnen über ein neues Lehrmittel zu diskutieren, haben wir sie aufgefordert, ihr Lehrmaterial mitzunehmen», erinnert er sich. «Einige haben Unterlagen aus den 1960er-Jahren vorgelegt.» Statt wie in diesen Werken eine vermeintliche Wahrheit kanonisch zu verbreiten, sollen sich im neuen Lehrmittel die Schüler an das Wissen, an die vielen historischen Wahrheiten, an die verschiedenen Hypothesen herantasten. Denn gesichert – so die weit verbreitete, aber nicht einhellige Meinung unter Historikern – ist nur wenig. Oder wie es Thomas Maissen, Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Paris, sagt: «Über die Schlacht bei Morgarten ist kaum mehr bekannt, als dass sie stattgefunden hat.» (Silvan Meier)
HinweisIm Rahmen der 700-Jahr-Feiern Schlacht bei Morgarten findet am 24. Januar in Goldau ein Historikerkongress statt. Weitere Informationen auf www.morgarten2015.ch