Ruinenromantik im einstigen Flanierpark

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Der «Hirzenchäller» setzte im 19. Jahrhundert einen Gegenakzent zur starken industriellen Prägung Chams.

  • Ein aussergewöhnlicher Zeitzeuge: der Hirzenchäller mit dem rekonstruierten Pavillon. (Bild Patrick Hürlimann)
    Ein aussergewöhnlicher Zeitzeuge: der Hirzenchäller mit dem rekonstruierten Pavillon. (Bild Patrick Hürlimann)

Cham – Die gegen die Lorze hin leicht abfallende Grünzone zwischen Knonauerstrasse und Hammergut wird von Spaziergängern und Radfahrern gerne aufgesucht. Wie ein kleines Naherholungsgebiet birgt das Areal lauschige Orte mit Sitzgelegenheiten und Spazierwegen unter oder entlang von Bäumen. Auch der Lorzenweg führt hier dem Fluss entlang durchs schattige Grün. Dass dieses naturnahe Areal rechts der Lorze einst Teil einer grossen, ­romantischen Parkanlage war, daran erinnert hier heute nichts mehr – fast: Ein einziges Relikt aus jener Zeit, der sogenannte «Hirzenchäller», hat bis heute überdauert. Er steht am Lorzenweg einen Steinwurf von der Brücke beim Hammergut entfernt an der Mündung des Teuflibachs in die Lorze.

Die Geschichte dieses einzigartigen Rundbaus aus Stein geht auf den Zürcher Eisenhändler Johann Jakob Vogel (1783–1841) zurück. Dieser erwarb im Jahre 1825 die alte Hammerschmiede an der Lorze, nachdem der Vorbesitzer Aloys Bernauer Konkurs gegangen war. Vogel modernisierte den Schmiedebetrieb, liess sich direkt daneben ein herrschaftliches Landhaus errichten und um dieses einen Garten im englischen Stil anlegen.

Vogel zeigte einen ausgeprägten Sinn für Landschaftsgestaltung: Mit dem Ausbau des Hammerguts nicht genug, weitete er seine Pläne aus auf die andere Seite der Lorze. Dort liess Vogel einen weitläufigen Park mit einem Gehege für Hirsche anlegen. Damit setzte er einen Gegenakzent zur sich stark entwickelnden Chamer Industrie entlang der Lorze – auf der einen Seite ratterten die Maschinen zur Papierproduktion, auf der anderen hämmerte die Schmiede unentwegt. Dazwischen entstand nun mit der gepflegten Gartenanlage und den Tieren eine Oase der Ruhe und Musse, die zum Lustwandeln lud.

Ein Unterstand für die «Hirzen»?

Als bauliches Element dieses Hirschparks jenseits des Lorzenlaufs entstand der eingangs erwähnte, heute noch vorhandene Rundbau aus Sandstein, der in seiner Form an die apulischen Trulli erinnert, in das ansteigende Gelände hineingebaut ist und inwendig einen Durchmesser von rund fünf Metern aufweist. Auf dem Dach des Gebäudes platzierte Vogel einen oktogonalen Holzpavillon mit Reetdach. Seit jeher ist dieser steinerne Bau als «Hirzenchäller» bekannt. Die Bezeichnung geht auf das mittelhochdeutsche Wort «hirz» zurück, was nichts anderes als das stolze Wildtier bezeichnet. Wozu genau der Hirzenchäller, respektive Hirschenkeller diente, ist nicht überliefert. Dank der massiven Steinmauern und der eher schattigen Lage am und im Hang blieb es im Inneren des Hirzenchällers stets kühl. Daher ist eine Nutzung als Lagerraum für Nahrung – Fleisch, Tierfutter etc. – anzunehmen.

Es ist aber auch nicht aus­zuschliessen, dass der Steinbau zuweilen von den Tieren als unterstand genutzt wurde. Ein biedermeierliches Gemälde von 1841 zeigt den Hirzenchäller mit einem flanierenden Liebespaar. Vom erhöhten Pavillon aus schien man direkte Sicht ins Hirschgehege gehabt zu haben.

Romantisches Gestaltungselement

Es ist durchaus möglich, dass sich Johann Jakob Vogel von den damaligen Gartengestaltungen grosser Herrscherpaläste leiten liess, wo es Gepflogenheit war, aus einem romantischen Motiv heraus künstliche Ruinen als Zierelement und Symbol für den Untergang früherer Grösse einzubringen. So erinnert der Hirzenchäller denn auch an die Überreste einer mittelalterlichen Festung, wie sie in der ­Region mehrfach existieren.

Mit dem Pflanzenwuchs auf und am Gebäude hat der Hirzenchäller etwas Ruinenhaftes, etwas romantisch Verklärtes. Auch heute noch, obwohl der Hirschpark schon lange Geschichte ist. Der Hirzenchäller ist mit der Zeit desolat geworden, heillos überwuchert und marod glich er mehr einem Steinhaufen denn einem Bauwerk.

2013 wurde das Objekt unter Denkmalschutz gestellt und im Jahr darauf umsichtig restauriert nach der historischen Ansicht von 1841. Der hölzerne Pavillon ist originalgetreu rekonstruiert worden. Auf seiner Spitze sitzt heute ein «Chamer Bär». Mit dem Hirzenchäller besitzt die Gemeinde Cham einen aussergewöhnlichen und wertvollen Zeitzeugen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und ­Zuger Bezug nach.