Eine Heldenreise in Corona-Zeiten

Literatur & Gesellschaft, Brauchtum & Geschichte

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Die Geschichtenerzählerin Isabelle Hauser schenkt uns einen Mythos,  um unsere Zeit besser zu verstehen.  Und macht dabei gleich ihre eigene Heldenreise.

  • Die Geschichtenerzählerin Isabelle Hauser berichtet von der Heldenreise. (Bild: Alex Kereszturi)
    Die Geschichtenerzählerin Isabelle Hauser berichtet von der Heldenreise. (Bild: Alex Kereszturi)
Zug – Dieser Beitrag ist in der Januar/Februar-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Beiträgen.

Wir werden Geschichten erzählen über die Corona-Zeit. Doch wovon werden sie handeln? Als ich Ende 2020 auf das Jahr zurückblickte, ­musste ich als Erzählerin unweigerlich an den Mythologieforscher Joseph Campbell und seine Heldenreise denken: In der Struktur vieler westlicher Märchen und Mythen, wie zum Beispiel Aschenputtel und Rotkäppchen, wagen die Heldinnen nach dem Aufruf des Herolds den Schritt ins Abenteuer. Sie begegnen Helfern und erreichen den unvermeidbaren Tiefpunkt, finden dort das Elixier und kehren als gereifte Persönlichkeit zurück zur Ordnung. Die Heldenreise fand auch Anwendung in der Psychotherapie und in Holly­wood – und nun in meinem Jahresrückblick als Künstlerin.

Beginn: Der Ruf des Abenteuers
Ausgangspunkt des Helden ist die langweilige Welt. Nicht gewillt, die Komfortzone zu verlassen, ignoriert der Held den Ruf des Abenteuers, bis der Herold die Dringlichkeit unmissverständlich klarmacht.
In meiner Welt waren Engagements mit Harfe und Storytelling die erfüllende Berufung neben meiner Tätigkeit in der Privatwirtschaft. Die Umsetzung künstlerischer Projekte war selbstverständlich, es war eine Welt, in der ich für einen Auftritt an der Swiss International School in Dubai ohne Bedenken ein Flugticket buchte. Die Aerosole der virusspeienden Fledermaus namens Corona, die aus China westwärts waberten, zogen an mir vorbei; die Absage des Auftritts in Dubai aufgrund des Virus fand ich übertrieben. Die Akzeptanz der Veränderung folgte erst, als der Bundesrat als märchenhafter Herold mit dramatisch gefasster Miene am Bildschirm zur Bevölkerung sprach. Mit der Verkündung des Lockdowns war die Schwelle überschritten: Das Abenteuer begann.
 
Aufbruch: Der Schritt ins Unbekannte
Die Reise beginnt mit dem Überschreiten der Schwelle. Dahinter lauern Dunkelheit, Gefahr und Unbekanntes, wo Entscheidungen, Prüfungen und Schmerz auf den Helden warten – und das rettende Elixier, das er nach dem unvermeidbaren Tiefpunkt findet.
Zuerst war alles ganz aufregend. Der bilderbuchartige Frühling brachte ein Wunderland von neuartigen Angeboten. Die Trauer über ­abgesagte Engagements war vergessen in der virtuellen Gesellschaft anderer Storyteller aus der Schweiz und der ganzen Welt, die wie Helfer im Märchen zusammenfanden. Kreativität und Solidarität waren schier grenzenlos, die internationale Erzähl-Szene greifbarer als je zuvor. Nicht nur die existenzielle Not verband, sondern auch der Schaffensdrang und die Am­bition, die Erzählkunst ohne das gewohnte ­Medium der Veranstaltungen vor Ort am Leben zu erhalten.
So fand ich mich in meinem Wohnzimmer wieder, iPad auf dem Notenständer balancierend, für die Aufnahme von Videos mit Geschichten und Musik für verschiedene Plattformen (siehe Artikel in unserer Maiausgabe 2020). Für eine Sondersendung am Radio nahm ich Lieblingsgeschichten auf – die Zeit verging wie im Flug. Alles war neu, alles wollte ausprobiert werden. Zumindest für eine Weile.
Nach der Zoom-Session mit einer deutschen International School im Spätsommer wäre ich am liebsten in einen hundertjährigen Dornröschenschlaf gesunken. Für einen schwarzen, stummen Bildschirm zu erzählen, im Wissen, dass Kinder dahinter sitzen, die sich unter normalen Umständen aktiv beteiligt hätten, war sehr anstrengend. Vielleicht war das der erste Schritt in Richtung des unabwendbaren Tiefpunktes. Nachdem die Euphorie über die Technik abgeflaut war, sah ich ein, dass HD-Bildschirme und Highspeed-Internet bestenfalls Krücken sind für Erzählkunst, wie ich sie mir vorstelle. Storytelling lebt von der Interaktion mit dem Publikum, der Magie, die im Moment entsteht. Erzählerin und Zuhörende sind zwei Hälften eines Ganzen; kein Teil ist komplett ohne den anderen.
Der Tiefpunkt kam in einer apokalyptisch ­frühen Winterabenddämmerung am Ufer des Zugersees. Wasser und Himmel waren grau in grau, der eisige Wind peitschte die Wellen auf und zerrte an meinem Mantel. Innert kurzer Zeit waren mehrere Engagements, auf die ich hingefiebert hatte, abgesagt worden – aus gutem Grund, die Enttäuschung war dennoch gross. «Welchen Sinn macht mein Leben, wenn es keine Ohren gibt für meine Geschichten und Musik?», heulte die Künstlerin in mir und schüttelte voller Ohnmacht und Zorn die Faust gen Himmel. «Wie kann ich einen Mehrwert schaffen mit meiner Arbeit, wenn alles abgesagt wird?» Die Bürgerin in mir rollte die Augen ob des Pathos: «Wenn es nur das ist, geht es dir gut. Hättest du lieber überfüllte Intensivstationen? Eben. Da müssen wir jetzt durch.» Ja, da müssen wir durch. Dennoch traf mich die Erkenntnis, was die Unterbindung des künstlerischen Ausdrucks auslöste, wie ein Schlag. Die Erkenntnis, dass Kunst tatsächlich nicht nur eine Einkommensquelle ist, sondern ein Selbstzweck, ein Teil von mir, der unter diesen ­Umständen einzugehen droht wie eine Meerjungfrau auf heissem Sand. Wie unersetzlich das, was vorher selbstverständlich war.
Darin fand ich schlussendlich das Elixier. Um der Mitmenschen und meiner selbst willen beschloss ich, stets das zu tun, was möglich ist. Veranstaltungen unter angepassten Bedingungen, voller Dankbarkeit für alle, die kommen, und Verständnis für jene, die es nicht tun. Neue Wege begehen, um auch in restriktivsten Zeiten mit Zuhörenden direkt zu interagieren [siehe Box: Der (An-)Ruf des Märchens]. Daran glauben, dass jede Krise auch eine Chance ist.

Rückkehr: Helden wie wir?
Geläutert und in seinen Grundfesten transformiert, kehrt der Held zurück zur Ordnung, das Elixier in den Händen. Folgte mein Leben tatsächlich dem monomythischen Muster, müsste es nun wieder zur Normalität kommen. Doch obschon das Jahr 2020 vorbei ist: Die Corona-Krise ist es nicht und wer weiss, was 2021 bereithält. Die Welt ist bereits eine andere und ich bin es auch. So beginnt das neue Jahr mit einem neuen, geschärften Blick auf vieles, meine künstlerische Tätigkeit inklusive. Die Geschichten und die Musik werden weiterhin eine Quelle der Inspiration und Freude sein, die ich mit ­anderen teile, in welcher Form auch immer.
Vielleicht erzähle ich auch Ihnen bald eine ­Geschichte, zum Beispiel die des Königs, der auf seinen Ring einen Satz gravieren möchte, der in guten Zeiten Demut inspirieren und in schlechten Zeiten Hoffnung bringen soll. Nach langer Suche findet er ihn: «Auch dies wird vorüber­gehen.»

(Text: Isabelle Hauser)


Über die Autorin:
Die Zuger Erzählerin Isabelle Hauser hat die Erzählkunst in Irland gelernt. Mit ihrer Harfe und Geschichten auf Deutsch und Englisch ist sie solo und in verschiedenen Formationen auf Bühnen im In- und Ausland unterwegs. Mit «Fabula – Zeit für Geschichten» erzählt sie regelmässig für Erwachsene in der Bibliothek Zug. Mehr Informationen:
www.isabellehauser.com

Der Anruf des Märchens:
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www.isabellehauser.com