«Der Kalte Krieg hat mich geprägt»

Literatur & Gesellschaft

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Autor Urs Zürcher, gebürtiger Steinhauser, stellt morgen an der Buchmesse in Leipzig seinen ersten Roman vor. «Der Innerschweizer» schreibt die Geschichte neu.

  • Autor Urs Zürcher ist mit seinem Erstlingsroman «Der Innerschweizer» Gast an der Buchmesse Leipzig 2014. (Bild Christof Borner-Keller)
    Autor Urs Zürcher ist mit seinem Erstlingsroman «Der Innerschweizer» Gast an der Buchmesse Leipzig 2014. (Bild Christof Borner-Keller)

Steinhausen – «Der Innerschweizer» ist eines jener Bücher, bei denen man tief durchatmet, um dann kurz und respektvoll den Kopf zu schütteln: «Wow, warum ist eigentlich bisher niemand auf diese Idee gekommen?» Ein Roman für Erwachsene, der sich so frisch und kurzweilig liest wie die Tagebücher von Greg, welche die globale Jugend seit einigen Jahren verschlingt. Mit den Kinderbuch-Bestsellern aus den USA hat «Der Innerschweizer» sein formales Erscheinen gemein, sieht man von den Zeichnungen ab: Er ist in Tagebuchform geschrieben. Und so wie Greg bereits die Leinwand erobert hat, kommt einem beim Lesen von Urs Zürchers Erstling unwillkürlich der Gedanke: Diese Geschichte wäre grosser Stoff fürs grosse Kino.

Wobei hier nicht der Alltag eines durchschnittlichen amerikanischen Jungen das Thema ist, sondern das Leben eines durchschnittlichen Schweizer Studenten, notiert vom 11. 2. 1979 bis zum 11. 8. 1989, das nach und nach aus den Fugen gerät weil die gesamte Schweiz aus den Fugen gerät, halb Europa dazu. Urs Zürcher, 1963 in Steinhausen geboren und seit vielen Jahren in Basel wohnhaft, besitzt die Frechheit – man könnte auch sagen den Wahnsinn –, die Geschichte des Kalten Kriegs umzuschreiben. «Ein Zürcher verwüstet Basel» setzte die «Sonntagszeitung» vergangenes Wochenende als Titel über die Kurzbeschreibung seines Romans – wortspielerisch und gewitzt.

Die Geschichte umgeschrieben

In Basel studiert U., der Protagonist und Tagebuchschreiber in Zürchers Roman: Der «Innerschweizer», der sich zum Studium in die Grenzstadt am Rhein aufmacht, in eine WG zieht und mit der linken Jugendbewegung in Kontakt kommt. In diesem Basel hält der Kalte Krieg Einzug, die Sowjets marschieren ein irgendwann ab 1982 beginnt Urs Zürcher, die Geschichte in seinem Roman umzuschreiben: die reale Schweizer Geschichte der Achtzigerjahre, die geprägt war von Jugendunruhen, von Demos, Hausbesetzungen und Protest gegen das übermächtige Bürgertum, vom Zürcher Opernhauskrawall in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1980, von linker Verbrüderung und staatlich diktiertem Polizeieinsatz – «Züri brennt».

Die Lektüre dieser «Retro-Science-Fiction» macht einen so atemlos wie die Idee selbst schnell durch ist man damit allerdings nicht: Rund 700 Seiten umfasst der Roman, immerhin handelt er ein Jahrzehnt ab und schreibt es zu grossen Teilen um. Von leichter Hand zu Papier gebracht werden WG-Alltag, Liebeleien, Diskussionen über Gott und die Welt mit der realen und dann fiktionalen Politik verwoben. Weshalb man immer wieder bei der Rekapitulation jüngerer Geschichte verharrt: Das reicht von Iranischer Revolution und Afghanistan-Krieg über DDR-Politik bis hin zu Details wie dem SPÖ-Sieg in Österreich, im Tagebuch am 8. 5. 1979 kurz und knapp festgehalten mit «Kreisky hat gewonnen».

Historische Quellen

«Ich ticke eben historisch», sagt Urs Zürcher, der in Basel Geschichte, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur studierte, in Zürich promovierte und seit 2005 an der Berufsfachschule Basel Deutsch und Geschichte unterrichtet. An seinem ersten Roman schrieb er «plus minus» zwei Jahre. Nachdem «die grosse dramaturgische Linie» gesetzt war («Manche Ideen erledigen sich, andere bleiben als ich mit dem ‹Innerschweizer› begann, merkte ich, das kommt gut»), liefen das Schreiben und Recherchieren parallel. Urs Zürcher verbrachte viele Stunden damit, in der Universitätsbibliothek Basel alte Zeitungen zu wälzen: So stimmen zu Beginn nicht nur politische Details, sondern sogar das Wetter des jeweiligen Tages mit der historischen Realität überein. Auch alte Staatsschutz-Fichen zog der Autor zur Recherche heran: Ein Ideengeber zu seinem Roman ist sicher auch der Schweizer Fichenskandal am Ende des Kalten Kriegs, als herauskam, dass Bundes- und Polizeibehörden zwischen 1900 und 1990 rund 900 000 Fichen angelegt und so die Aktivitäten von über 700 000 Personen und Organisationen beobachtet und erfasst hatten.

Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit

«Der Innerschweizer» beginnt mit der Vorbemerkung eines fiktiven ehemaligen Spitzels, der die Basler linke Szene der Achtzigerjahre unter Beobachtung hatte. Das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit endet dann nicht mal bei der Anmerkung des Autors, der vorgibt, das Tagebuch auf Wunsch und mit Erlaubnis des Spitzels zu veröffentlichen. «Der Konjunktiv soll etabliert werden», sagt Urs Zürcher im Gespräch. «Literatur bietet uns die Möglichkeit, die Möglichkeiten des Lebens zu begehen.» Im Roman heisst es am 24. 2. 1986: «Als wir in den Keller stiegen, war hier Schweiz, nach dem Auftauchen stellten wir fest: Hier ist Sowjetunion. Rot bleibt rot.»

Urs Zürcher betont, nicht das Alter Ego seines Protagonisten U. zu sein. Auch alle anderen Figuren sind reine Fantasieprodukte, haben oft erst während des Schreibens ihre Kontur gewonnen. Trotz seines Titels nehme das Buch keinen Bezug zur Innerschweiz, sondern zur Schweiz als Ganzes: Innerschweiz als Synonym für in der Schweiz. Wobei Zürcher keine explizite Kritik an der Politik seines Landes während des Kalten Kriegs üben will, sondern vielmehr an der Frage interessiert ist, «wie diese Zeit die Menschen tief in ihrem Innersten beeinflusst hat». Der 50-Jährige sagt von sich: «Der Kalte Krieg hat mich geprägt.» (Susanne Holz)

Hinweis
Morgen Freitag liest Urs Zürcher um 15.30 Uhr in der Glashalle Leipzig im Rahmen der Buchmesse aus seinem Roman. Am 22. März ist er am Literaturfest Luzern zum Sofagespräch geladen, am 14. Mai findet eine Lesung im «Sphères» in Zürich statt, offizielle Buchpremiere ist am 9. April in der Buchhandlung Bider & Tanner in Basel. Urs Zürcher, «Der Innerschweizer», Bilger Verlag, 720 Seiten, 40.90 Franken.