Die «Jammergestalten» erwachen zum Leben

Kunst & Baukultur, Film & Multimedia

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Mit der Premiere der spektakulären Licht-/Tonshow «Verhüllt» gelingt eine sinnliche Neuerzählung der Skandalgeschichte um die Gehr-Fresken in der Oberwiler Pfarrkirche Bruder Klaus.

  • Die Pfarrkirche Bruder Klaus wird zur Lichtbühne und erzählt die Geschichte der einst umstrittenen Wand- gestaltung durch Ferdinand Gehr. (Bild Matthias Jurt)
    Die Pfarrkirche Bruder Klaus wird zur Lichtbühne und erzählt die Geschichte der einst umstrittenen Wand- gestaltung durch Ferdinand Gehr. (Bild Matthias Jurt)

Oberwil b. Zug – Exakt ein Jahr nach der geplanten und wegen Corona vertagten Uraufführung des Spektakels hat es nun doch noch geklappt: Die Fresken in der Bruder-Klaus-Kirche in Oberwil haben mit der Lichtshow «Verhüllt» ihre ganz besondere Rehabilitation erlebt. Klar, seit über 50 Jahren schon ist man über den anfänglichen Eklat hinweg, hat sich mit den gewöhnungsbedürftigen Malereien Ferdinand Gehrs arrangiert, viele haben die Malereien gar lieb gewonnen – mittlerweile sind sie faktisch ein wertvolles Kunst- und Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung. Doch jetzt, wo ihre Geschichte auch noch mit modernsten technischen Mitteln in Form einer feinst durchorchestrierten Illuminierung mit Live-Performance neu erzählt worden ist, mag man die «Schmierereien» von einst abermals in neuem Licht sehen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Premiere der von langer Hand und mit viel Fleiss und Aufwand geplanten Lichtschau am Donnerstagabend wurde von einem raumfüllenden Publikum sichtlich mit Begeisterung aufgenommen. Einige dürften sich eingefunden haben, deren Erinnerung noch bis in Zeiten zurückreicht, als die umstrittenen Gehr-Bilder das gesamte Dorf tief gespalten haben. «Sie känned mich nid – jedäfalls no nid», spricht zu Beginn eine der sympathischen Erzählstimmen aus dem Off einleitend. Im Unterwaldner-Dialekt; man wird gegen Ende erfahren, um wen es sich handelt. Zunächst greift die Geschichte weit in die Vergangenheit zurück, als barocke Ästhetik das sakrale Leben geprägt und die Kirche Alltag, Gedanken und Frömmigkeit der Bevölkerung bestimmt hat. Der moderne polygonale Raum der Oberwiler Pfarrkirche mit seinem Zeltdach wird für einen Moment zur barocken Säulenhalle.

Und dann der grosse Skandal...

Die Geschichte führt schliesslich – begleitet von thematisch abgestimmten Illuminationen und Einblendungen historischen Bild- und Videomaterials – in die Zeiten des Umbruchs, als neue Formen der Liturgie genauso wie eine zeitgemässere Kirchenarchitektur Einzug hielten. Das von Hanns A. Brütsch anno 1956 fertiggestellte Kirchengebäude – damals wohl das fortschrittlichste des Landes – sollte in seinem Inneren vom bedeutenden Schweizer Kirchenmaler Ferdinand Gehr (1896-1996) mit Wandfresken bespielt werden.

Was nach Vollendung des ersten Monumentalgemäldes mit Jesus und den zwölf Aposteln folgte, hätte niemand erwartet: Man war tief entsetzt ob der eigenwilligen Art von Gehrs Darstellung der Bildinhalte. Wie «Jammergestalten aus dem KZ» sahen einige die Heiligen oder «Engel wie Spiegeleier» die Himmelswesen – Gotteslästerung in Reinform! Manche in ihrem Glauben ärgst brüskierte Oberwiler hätten den Maler wohl am liebsten mit Fackeln und Mistgabeln aus dem Dorf gejagt. Dass Gehr seine weiteren «Kindergartenzeichnungen» schliesslich doch noch ausführen konnte, war nur mit Berufung auf die vertragliche Bindung möglich. Per Abstimmung beschlossen die Oberwiler, die vollendeten Objekte des Anstosses mit Vorhängen zu verhüllen, das kleine Dorf am Zugersee erlangte durch den Skandal unfreiwillig internationale Bekanntheit. Die Spaltung zog sich bis in einzelne Familien hinein – verbildlicht wird das in der Schau mit einem riesigen Lichtriss, der sich durch die Mitte der Kirche zieht. Jahrelang musste der architektonisch aussergewöhnliche Kirchenraum auf seine synergetisch ergänzende, heute nicht mehr wegzudenkende Farbigkeit verzichten.

Dann, nach einer neuen Abstimmung, obsiegten die Befürworter der ungewohnten Kunst. Die Hüllen fielen, die Malereien waren endlich uneingeschränkt sichtbar. Bei diesem Befreiungsschlag findet das Lichtspektakel seinen visuellen Höhepunkt: Die Apostel wie auch Jesus – selbst als Gekreuzigter – erwachen zum Leben, erheben sich von der Wand, wandern in den Kirchenraum, die Engel beginnen ihren Himmelsflug, der Kirchenpatron erscheint, spricht zu den Leuten und erheitert sie.

Überraschungsgäste an der Premiere

Schliesslich verglimmt das eindrückliche Licht- und Tonerlebnis, das Publikum spendet angemessenen Beifall an die Adresse der rund 13 Mitwirkenden hinter dem aufwendigen Projekt. Das sind neben dem Initianten und Projektleiter Daniel Christen sowie dem Zuger Historiker Michael van Orsouw als Verantwortlicher für Dramaturgie und Erzählung der technische Leiter Martin Riesen und sein Team wie auch die weiteren Erzählerinnen und Erzähler. Und ganz besonders natürlich die musikalischen Live-Performerinnen und -Performer der Musikschule Zug. Soundkonzept und Komposition stammen von Luigi Laveglia.

Anwesend bei der Premiere waren zudem die Sprösslinge der beiden zentralen Protagonisten hinter der ganzen Geschichte: Ferdinand Gehrs Tochter Franziska Gehr (*1939) sowie Hanns A. Brütschs Sohn Andres Brütsch (*1951). Ein wahrlich besonderer Moment, die beiden Seite an Seite zu sehen. (Andreas Faessler)