Die Subversion des Körperhaften
Theater & Tanz
Der mehrfach ausgezeichnete Schweizer Theaterregisseur, Bühnenbildner und Performer Martin Zimmermann hat seine neueste Choreografie «Louise» auf die Bühne des Theater Casino Zug gebracht.
Zug – Mit «Louise» ist Martin Zimmermann nach zwei Jahren Pause erneut in Zug: Die Vier-Frauen-Choreografie wurde vom Theater Casino Zug koproduziert und ist ein kaleidoskopisches Bühnenereignis, das sich weigert, in eine Schublade gesteckt zu werden. Denn der im zürcherischen Wildberg geborene Multi-Künstler, der nach einer Lehre als Dekorationsgestalter das Pariser Centre National des Arts du Cirque CNAC absolvierte und mit seiner Abschlussarbeit «Le cri du caméléon» gleich auf Welttournee ging, kreiert seit nunmehr 25 Jahren seine ganz eigenen künstlerischen Universen.
Befragt, wie er denn seine Kunstform beschreiben würde, antwortet der Hans-Reinhart-Ringträger: «Visuelles und physisches Theater ohne Worte». Wer auf der Bühne eine Geschichte, einen narrativen Ablauf erwartet, wird zunächst irritiert sein. Zimmermanns bis ins Detail ziselierten Choreografien kommt man mit Alltags-Sinn, mit Logik nicht bei. Auch «Louise» versteht eher, wer sich dem Stück beschreibend nähert.
Frauenkörperkunst mit wechselnden Kulissen
Vier sehr verschiedene Frauen im Alter zwischen 25 und 50 teilen sich die Bühne mit wechselnden Kulissen, Leitern, Tischen, Stühlen und drei im Boden eingelassenen Drehbühnen. Während 90 Minuten ist alles in ständiger Bewegung, gleichrangig, mal zu unterschwelligen Geräuschen oder dröhnenden Bässen, mal in absoluter Stille (Musik Tobias Preisig).
Bérengère Bodins Bewegungsspektrum kommt aus dem klassisch-zeitgenössischen Tanz; sie imitiert längere Zeit eine Mick-Jagger-ähnliche Figur mit engen Leggings, Mütze und Sonnenbrille, viril-aggressiver Körpersprache und lautem Kasernenbefehlston. Männlich-weibliche Rollengrenzen zerfliessen. Die zeitgenössische Tänzerin Rosalba Torres Guerrero, mit grauer Wuschelmähne und weiss umrandeten Augen, stöckelt in weissen Spitzenstrümpfen, schwarzem Korsett und Eishockey-Knieschonern herum, alterniert zwischen Erstarrung und motorischen Wutanfällen. In der Mitte des Stücks erhält sie eine Doppelgängerin – eine Puppe, der Leben eingehaucht wird. Wer ist tot, wer lebendig?
Methinee Wongtrakoon ist eine circensische Schlangenfrau und beeindruckt mit atemberaubender Turnerei an einer Leiter: Wo ist der Ellbogen, wo die Ferse, warum fällt sie nicht herunter, wie schlüpft sie durch ihr Requisit, einen Stuhl? Auch Marianna de Sanctis – gemäss Zimmermann vom Strassentheater kommend – setzt alle Körperteile ein. Und ihre hüftlangen Haare, und ihren weiten Rock. Zeitweise so verwirrend, dass man im Publikum nicht mehr recht weiss, wo vorn und hinten, Kopf oder Gesäss ist.
Zimmermanns «théâtre d’objets et de personnages» bewegt sich irgendwo zwischen Theater, Tanz, Nouveau Cirque und bildender Kunst; und von weitem grüsst auch die alte Commedia dell’arte mit ihren Lazzi (Ungeschicklichkeits-Kunststückchen), ihrem humorigen Grammelot (Kauderwelsch) und ihrer ausgelassenen Purzelbaum-Hektik. Dabei lässt das artistische Können der vier Künstlerinnen die anderthalb Stunden im Nu vorbeifliegen.
Alles gerät «zunderobsi»
Der Körper wird zur bewegten Skulptur. Und das Ganze zu bewegter bildender Kunst. Es wird klar, warum das Stück der französisch-US-amerikanischen Bildhauerin und Installationskünstlerin Louise Bourgeois gewidmet ist. Hier wird weibliche (und nebenbei auch männliche) Körperlichkeit verhandelt, und zwar – indem alles immer wieder «zunderobsi» gerät – mit vergnüglicher Subversion. Sub-vertere, das Unten nach Oben kehren: alogisch und obsessiv, wie Fetzen von Traumbildern. Wer aber die Büchse der Pandora des menschlichen Unterbewusstseins öffnet, ist immer auch politisch, widersetzt sich der Tyrannei des Establishments, plädiert für Wut, Humor, Kreativität.
Am Schluss kommt die Szene, in der Marianna de Sanctis im Lichtkegel unaufhörlich gehend mit ihrem rosa Reifen paartanzt. Sehr lange, sehr still, man hält den Atem an. Die Bewegungen wiederholen sich, werden rhythmisch variiert – Motorik ist Musik. Die Bewegungsmeditation wird für das Publikum zum atemholenden Schauen. Oder zu schauendem Atemholen. (Text: Dorotea Bitterli)