Zuger Historiker räumt mit Fehlurteilen auf
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Marco Jorio hielt ein Referat über die Bedeutung des Wiener Kongresses vor dem Historischen Verein des Kantons.
Zug – Als wichtigstes Ereignis für die Eidgenossenschaft in der heurigen Kaskade der Gedenkjahre stuft Marco Jorio den Wiener Kongress ein – und wartet aufgrund seiner Forschungen mit aufsehenerregenden Funden und Wertungen auf.
Der Historische Verein des Kantons Zug verpflichtete keinen Geringeren als den gebürtigen Zuger Marco Jorio, während 30 Jahren Chefredaktor des nationalen Werkes «Historisches Lexikon der Schweiz», um vor Publikum über den Wiener Kongress und dessen bedeutsame Auswirkungen auf die Eidgenossenschaft zu referieren. In seiner rasanten Tour d’Horizon beleuchtete Jorio die Geschichte der Krisenzeit 1790–1813, an deren Ende die Tagsatzung die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz erklärte. Anfang März 1814 votierten die Monarchen Russlands, Preussens und Österreichs für das Weiterbestehen der 19 Orte umfassenden Eidgenossenschaft als souveränen Staat. Dennoch dauerten die Streitigkeiten der Anhänger der «Alten Schweiz» (Restauration, mit 13 Orten) und jenen der «Neuen Schweiz» (Innovation, mit 19 Orten) an.
Ein schweizerischer Bundesvertrag
Die Zürcher «Lange Tagsatzung» (6. April 1814 bis 31. August 1815) einigte sich nach fünf gescheiterten Entwürfen und Ultimaten der Alliierten am 9. September 1814 auf eine «Bundesvertrag» genannte Verfassung. Im Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 erhielt die Schweiz Unabhängigkeit und Souveränität zugesprochen, worauf am 12. September die Tagsatzung die von Frankreich abgetrennten Orte GE, VS und NE als vollberechtigte Glieder aufnahm – und nicht, wie stets von Historikerseite behauptet, aufgefordert durch den Wiener Kongress. Nämlichen Tages entsandte sie eine offizielle Deputation nach Wien.
Ein historiografisches Fehlurteil
Am Wiener Kongress, eröffnet am 3. November 1814 und durch permanente Präsenz der wichtigen Monarchen ausgezeichnet, stellte die «Schweizer Frage» im Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung kein Randproblem, sondern eines der vier Hauptthemen dar. Ein weiteres historiografisches Fehlurteil zerpflückte Marco Jorio auch noch: Die Schweizer Orte boten wohl innenpolitisch ein Bild der Zerrissenheit, hingegen aussenpolitisch eine unauflösliche Phalanx. Wegen Uneinigkeit hinsichtlich Interventionen der Grossmächte in unserem Land gedieh das entsprechende Komitee unter der versierten Leitung des intimen Schweiz-Spezialisten Johann von Wessenberg und bestückt mit anderen Kennern des Staates fast zu einer Art Gerichtshof. Gegenüber der «alten Schweiz» gab es territorial nur das Fürstbistum Basel zu «verteilen» – nämlich an Bern und Basel (Birseck), wohingegen das Komitee die finanziellen Entschädigungen mit Generosität vornahm. Einige weitere Punkte der bereits am 19. März 1815 beschlossenen und tags darauf von den «Grossen Fünf» plus Portugal, Spanien und Schweden genehmigten «Schweizer Erklärung» lauten: Gewährleistung der seit 1803 bestehenden Kantonsgrenzen, Entschädigungen der neuen Kantone AG, VD, SG (nicht aber TG) an alte Kantone, Rückgabe der durch BE und ZH angelegten und sequestrierten Summen bei der Bank of England, Druck auf Kantone zur Annahme des Bundesvertrages, Anerkennung, nicht jedoch die formelle Garantie der «immerwährenden Neutralität», welche die Mächte lediglich in Aussicht stellten bei Ratifizierung der «Schweizer Erklärung» – ergo widersprach Marco Jorio bereits wieder der gängigen Geschichtsschreibung.
Immerwährende Neutralität
Nun handelte die Tagsatzung doch hurtig: Am 27. Mai 1815 ratifizierte sie die «Schweizer Erklärung», setzte am 8. August den Bundesvertrag in Kraft, dito die Wiener Schlussakte, sodass ihr im Gefolge des Zweiten Pariser Friedens vom 20. November, wodurch die Schweiz eine Kriegsentschädigung von 3 Millionen Francs und eine Landverbindung zu Genf erhielt, die völkerrechtliche Anerkennung der immerwährenden Neutralität zufiel. Marco Jorio bemerkte hierzu sec: «Und es herrschte an diesem 200. Gedenktag dieser beispiellosen historischen Weichenstellung völliges Stillschweigen in Land und Volk und Wissenschaft und Medien.»
Für den Historischen Verein Des Kantons Zug: Jürg Johner