Der Werdegang einer Wirtstochter

Dies & Das

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Vom einfachen Landmädchen zur Frau Landammann und Unternehmerin: Die vom Zuger Maler Joseph Stocker porträtierte Dame aus dem Ägerital ist durch ihre Heiratswahl in angesehene Kreise gekommen.

  • Anna Maria Benziger-Meyer (1799–1861). Ölgemälde von Joseph Stocker. (Bild Andreas Faessler)
    Anna Maria Benziger-Meyer (1799–1861). Ölgemälde von Joseph Stocker. (Bild Andreas Faessler)

Zug – Auf den ersten Blick wirkt die ältere Dame in gottgefälliger Kleidung biedermeierlich streng, emotionslos, ja gar hart. Bald aber entdeckt man in ihrem Blick etwas Gütiges, Liebevolles, Mütterliches – je intensiver man ihr Antlitz betrachtet. Das Porträt zeigt Anna Maria Meyer aus Oberägeri. Die Signatur des Ölgemäldes verweist auf den Zuger Maler Joseph Stocker (1825–1908), einer der seinerzeit wohl fleissigsten Porträtisten der Schweiz. Kaum eine Zuger Persönlichkeit des mittleren bis gehobenen Bürgertums, die sich im 19. Jahrhundert nicht hätte von Stocker auf Leinwand bannen lassen. Auch jenseits der Kantonsgrenzen waren die Fertigkeiten des Zugers gefragt.

Stocker malte Porträts im Akkord, zuweilen wie am Fliessband, stets schnell, aber mit sehr sicherer Hand und nahezu fotorealistisch. Gelegentlich tauchen auf dem Kunstmarkt Gemälde von Stocker auf, welche besonders eindrücklich von seinem Können zeugen. So etwa das prächtige Bildnis eines Orientalen, welches den Vergleich mit einem Leopold Carl Müller oder Jean-Léon Gérôme nicht zu scheuen hat. Es fand im Wiener Dorotheum einen solventen Abnehmer.

Nachzeichnung einer Biografie

Joseph Stockers Hauptbeschäftigung war und blieb jedoch das Auftrags-Porträtieren. Dazu gehört denn auch das Bildnis unserer Oberägererin, deren spannende Biografie nachzuzeichnen sich lohnt. Dies funktioniert einigermassen gut, trotz recht spärlicher Quellen – Frauen spielten zu jener Zeit gesellschaftlich bloss die zweite Geige, über die männlichen Vertreter des Bürgertums gibt es ein Vielfaches an Aufzeichnungen. Das Leben hat es vergleichsweise gut gemeinet mit Anna Maria Meyer, so könnte man sagen. Durch ihre Heirat mit dem Einsiedler Verleger Karl Benziger (1799–1873) geriet sie in angesehene Kreise. Geboren wurde Anna Maria am 19. April 1799 in Oberägeri als Tochter des Wirtepaares Wolfgang und Maria Barbara Meyer-Iten. In der Benziger-Familienchronik wird das Gasthaus Ochsen genannt, das Taufbuch wie auch die Billeterchronik nennen jedoch das Gasthaus Löwen, in dem die Meyers wirteten.

Tatsächlich fällt der Name Meyer (oder Meier) im Zusammenhang mit dem einstigen «Löwen» auch in der Oberägerer Dorfgeschichte – im Fall der 1699 geborenen Eva Krähan: Nach einer Affäre mit mehreren Männern, darunter mit dem Löwenwirt Josef Meier und dem Ochsenwirt Josef Rogenmoser, gebar sie als ledige 46-Jährige ein uneheliches Kind; damals ein grosser Skandal, erst recht, weil man nicht wusste, wer nun der Vater war. Der Löwen-Meyer wurde nur milde bestraft. Ob es sich bei ihm um einen Vorfahren unserer Porträtierten handelt? Die verfügbaren Notizen sind zu schmal, um es abschliessend zu eruieren – es wäre zumindest eine delikate Randnotiz.

Anna Maria Meyers Vater starb kurz nach ihrer Geburt, hernach führte ihre Mutter das Gasthaus eigenhändig. Wenig später heiratete Anna Marias Mutter einen Ratsherrn Martin Anton Kälin aus Einsiedeln. Mutter und Tochter zogen ins Klosterdorf. Dort lernte Anna Maria den Verleger Karl Benziger (1799–1873) kennen und lieben. Die beiden heirateten am 18. Oktober 1819 und hatten zehn Kinder. Die Ehe ist den Aufzeichnungen zufolge von inniger Liebe und Treue geprägt gewesen. Das Familienleben bedeutete viel Arbeit für die Mutter, dennoch setzte sie sich mit Herzblut und viel Aufopferung für das Familienunternehmen ein und brachte alles unter einen Hut. Sie übernahm innerhalb der Firma die Rosenkranz- und Devotionalienabteilung. Die Oberägererin war eine durch und durch bescheidene, fromme und gottesfürchtige Frau. Wie der Familienchronik zu entnehmen ist, soll sie selbst nach den strengsten Arbeitstagen fast die halbe Nacht noch auf den Knien betend verbracht haben.

Die Frau am Beginn der Geschichte eines Spitals

Das gesellschaftliche Ansehen der Familie war nicht nur von der Firmentätigkeit, sondern auch von den politischen Ämtern Karl Benzigers geprägt. Er war zunächst Kantonsrichter, danach Ratsherr sowie Statthalter zu Einsiedeln und später schliesslich Landammann des Bezirks. So wurde die einfache Wirtstochter aus Oberägeri zur Frau Landammann von Einsiedeln. Die beiden hatten eine stark karitative Ader. Anna Maria war laut Stammbaum Mitbegründerin des Frauen- und Töchtervereins Einsiedeln.

Am 24. Mai 1861 ereilte sie ein unerwarteter Tod. Der Verlust war für den robusten Karl Benziger so einschneidend, dass er sich vom Geschäft wie auch von der Politik vollständig ins Privatleben zurückzog. Dies lässt darauf schliessen, dass ihm seine Frau eine starke Partnerin in allen Bereichen war. Der Nachlass Anna Maria Benziger-Meyers bildete schliesslich den Grundstock für die von ihrem Mann kurz darauf aus der Taufe gehobene Krankenhausgesellschaft Einsiedeln. Aus dieser ist später das heutige Spital Einsiedeln hervorgegangen. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.