Eine Winterreise mitten im Sommer

Musik

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Das dritte Sommerklänge-Konzert widmete sich «Schuberts Winterreise».

  • Pianist Julius Drake und Tenor Ian Bostridge überzeugten im Zephyr Hangar der V-Zug. (Bild Heinz Morf/PD)
    Pianist Julius Drake und Tenor Ian Bostridge überzeugten im Zephyr Hangar der V-Zug. (Bild Heinz Morf/PD)

Zug – «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus» – mit diesen beiden ersten Verszeilen ist der inhaltliche Rahmen für die 24 Lieder des «Winterreise»-Zyklus von Franz Schubert schon gesetzt. Es stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe für Sänger und Pianist, aus den immer wieder wechselnden Stimmungen für mehr als eine Stunde angemessene Spannung aufzubauen.

Obwohl Wilhelm Müller (1794-1827) ohne die Vertonungen durch Franz Schubert heute wohl weitgehend vergessen wäre, sind seine dichterischen Leistungen keineswegs zu vernachlässigen. In lebhaften Bildern erscheinen laufend andere Schattierungen des enttäuschten Liebeserlebnisses, welche vom Komponisten in seinem vorletzten Lebensjahr genial vertont wurden. Übrigens fand die Uraufführung der «Winterreise» selbst im Kreise der ihm sonst wohlgesinnten Freunde ein sehr geteiltes Echo. Der ­Siegeszug um die Welt zu einem der bekanntesten Liederzyklen überhaupt erfolgte erst, als Komponist und Dichter längst gestorben waren.

Wie alle frühromantischen Komponisten fokussierte auch Schubert den Zyklus gedanklich und thematisch primär auf den Sänger, und das Tasteninstrument wurde als Begleitung verstanden. Dies schmälert aber keinesfalls die Leistung des Pianisten Julius Drake. Die rhythmisch freie Gestaltung des Vokalparts erforderte viele engräumige Anpassungen. Durch forsche Tempowahl wurde bei einigen Liedern (beispielsweise die Nummern 4, 5 und 8) auch hohe pianistische Virtuosität verlangt, was Julius Drake mit dem erneut zur Verfügung gestellten Steinway-Flügel souverän gestaltete.

Tadellose Intonation

Der Tenor Ian Bostridge verfügte über alle Voraussetzungen zu einer ausgezeichneten Interpretation. Er beeindruckte nicht nur durch eine tadellose Intonation, sondern auch durch die Fähigkeit, diese den verschiedensten Situationen nach Spannungsbogen, Ausdruck und Lautstärke anzupassen. Obwohl englischer Muttersprache, gelang ihm eine ausgezeichnete und nie fremdsprachig wirkende Verständlichkeit. Bis ins Pianissimo erlebte man ein souveränes klangliches Gleichgewicht, welches den grossen Raum scheinbar problemlos füllte. So schliesst sich der Rezensent dem mündlich geäusserten Bedauern der Veranstalter an, dass im Zephyr Hangar der V-Zug später keine Konzerte mehr möglich sein sollen.

Ian Bostridge weiss genau, was er mit der «Winterreise» darstellen will. Dies zeigt nicht nur eine grosse Zahl von Auftritten, sondern auch seine Publikation, welche vor allem die innere Verbindung zwischen Dichter und Komponist betont. Dabei haben sich die beiden persönlich gar nie gesehen. So gewinnt für ihn die Text-Deklamation automatisch einen höheren Stellenwert. Verglichen mit den heute immer noch beispielgebenden Aufnahmen etwa eines Dietrich Fischer-Dieskau (1925-2012) oder Hermann Prey (1929-1998) wirkt seine Gestaltung viel mehr als Rezitativ. Grosse Linien werden immer wieder von Details durchbrochen, manchmal bis zur ungewohnten Betonung einzelner Wörter.

Grenzbereich zwischen Tenor und hohem Bariton

Als Stimmlage wählte Schubert für den ganzen Zyklus den Grenzbereich zwischen Tenor und hohem Bariton. Während Fischer-Dieskau und Prey aus diesem Grund oft ziemlich wahllos transponierten, blieb Ian Bostridge stets in der Nähe der Originaltonarten, was in der Tiefe die freie Gestaltung manchmal etwas erschwerte.

Auf Wunsch der Veranstalter erfolgte der Applaus nur ganz am Schluss. Die beiden Ausführenden verzichteten auf eine Zugabe; der totalen persönlichen Verzweiflung mit dem «Leiermann» als letztem Lied des Zyklus ist nichts mehr beizufügen. (Jürg Röthlisberger)