Das Fernsehen vergass den Nazi

Brauchtum & Geschichte

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Die grosse TV-Serie «Frieden» spielt unter anderem auf dem Zugerberg und handelt von den Kindern aus dem KZ Buchenwald. Doch die wirkliche Geschichte war noch schlimmer, als das Fernsehen zeigte.

  • Die Zeichnung von Kalman Landau auf dem Zugerberg: die Erinnerung an die Zeit im KZ. (Bild: Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich)
    Die Zeichnung von Kalman Landau auf dem Zugerberg: die Erinnerung an die Zeit im KZ. (Bild: Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich)

Zug – Der Zugerberg ist heute ein beliebter Ausflugsort. Was viele Ausflügler nicht wissen: Vor 75 Jahren treffen dort unglaubliche Gegensätze aufeinander. Denn Hendryk, Kalman, Thomas und 104 weitere junge Männer fahren im Bus von Gurnigelbad auf den Zugerberg. Sie sind zwischen 16 und 22 Jahre jung – und haben bereits Unvorstellbares erlebt. Dort, wo sie hergekommen sind, waren Folterungen an der Tagesordnung. Es gab täglich übelste Misshandlungen, Tötungen kamen aufgrund von Kleinigkeiten vor: Sie waren im Konzentrationslager Buchenwald.

Jetzt, ab dem 14. Juli 1945, sollen sich diese Jugendlichen vom unvorstellbaren Grauen auf dem Zugerberg erholen können. Die Kinder aus dem KZ Buchenwald wohnen in der Liegenschaft Felsenegg. Dieses damals etwas heruntergekommene und verschmutzte Gebäude liegt an der Bergkante mit freier Sicht auf See und Berge und war das erste Kurhotel auf dem Zugerberg. Die Buchenwald-Kinder werden die Spuren des einstigen Kurtourismus entdeckt haben, wenn sie auf dem Zugerberg in den Wäldern gespielt haben: Da ein halb zugewachsener Pfad, dort eine Aussichtsplattform im Wald, ganz hinten ein künstlich angelegter Teich – alles angelegt für die Kurgäste der Pionierzeit des Zugerberg-Tourismus.

Italienische Faschisten

1925 wurde aus den Zugerberg-Hotels das Institut Montana. Die Internatsschule war ausgelegt für die Kinder reicher Deutschen, Engländer und Franzosen. Aber auch viele Söhne hochgestellter Italiener bekamen auf dem Zugerberg ihre Bildung. Im faschistischen Italien galt die Regel, wonach kein Italiener über 16 Jahren im Ausland studieren dürfe. Das Institut Montana konnte dank besten Beziehungen zum Mussolini-Regime eine Ausnahme erwirken, indem es den jungen Italienern selber militärischen Vorunterricht erteilte. Konkret übten die Montana-Italiener auf dem Vorplatz der Schule militärisches Exerzieren und wurden in Waffenkunde unterrichtet. Weil die Italiener sich einer faschistischen Organisation anschliessen mussten, waren diese zunächst der «Fascio Zurigo» zugeteilt. Weil das mühsam war, gründete der Leiter des Montana, Max Husmann, eine eigene faschistische Gruppe, die jeweils in Mussolini-Schwarzhemden über das Schulgelände stolzierte.

1939 begann der Zweite Weltkrieg. Das Kriegsgeschehen wühlte auch die Schüler auf dem Zugerberg auf: Die Vertreter befeindeter Kriegsparteien sassen miteinander im gleichen Schulzimmer. Währenddessen kam Schweizer Militär in die Liegenschaft Felsenegg, das dort eine Sanitätsanstalt einquartierte. Kurz darauf begannen die Schweizer Soldaten damit, direkt neben dem Montana Militärbunker, Tankfallen und Panzersperren zu erstellen: Denn genau hinter der Liegenschaft Felsenegg ging die Linie des Schweizer Réduits durch.

Der Leiter der Hitler-Jugend Zug-Brunnen

Da die Schweizer Soldaten längere Zeit an den militärischen Anlagen bauten und danach Bunker und Sperren bewachten, mietete die Armee Internatszimmer im Montana, denn es weilten weniger Schüler als zu Kriegsbeginn im Institut. Mitglieder der italienischen Fascio-Organisation lebten also unter dem gleichen Dach wie Schweizer Aktivdienstleistende. Damit nicht genug. Denn in der deutschen Abteilung des Instituts Montana arbeitete ein Lehrer, der ein überzeugter Nationalsozialist war. Dieser Hans-Eduard D. wirkte nicht nur in der Schule, sondern weit darüber hinaus. Er war stellvertretender Leiter der Deutschen Kolonie «Gemeinschaft Zug-Brunnen». Zudem suchte er systematisch Deutsche in der Schweiz auf, um sie unter Druck zu setzen, etwa mit der Verweigerung von Passverlängerungen; damit wollte er erreichen, dass sie bei den volksdeutschen Anlässen mitmachten oder sich selber oder ihre Söhne für Einsätze an der Front meldeten. Dieser «Montana-Hans», wie er in deutschen Kreisen hiess, war auch Rottenführer der «Hitler-Jugend» in Zug und Brunnen. Er war so emsig im Einsatz, dass ihn die Nazis 1943 zum «Oberrottenführer» beförderten.

Das Wirken dieses Hans-Eduard D. blieb den Schweizer Behörden nicht verborgen: Er galt aufgrund seines propagandistischen Wirkens als «suspekter Ausländer». Im Auftrag der Schweizer Bundesanwaltschaft kontrollierte die Kantonspolizei Zug seine Post. Zudem nutzte die Polizei eine Tessinreise des Lehrers, um sein Zimmer auf dem Zugerberg zu durchsuchen: Sie fand Unterlagen, Broschüren und Formulare der Reichsdeutschen Jugend, der Deutschen Kolonie, Listen über Ariernachweise sowie eine Hakenkreuzfahne.

Zurück zu den Kindern aus dem KZ Buchenwald. Als diese Mitte Juli 1945 zur Erholung in die «Felsenegg» kommen, wohnt der Nationalsozialist Hans Eduard D. auch noch auf dem Zugerberg. Jetzt leben also nicht nur verfeindete Nationen, italienische Schwarzhemden und Schweizer Soldaten am gleichen Ort, sondern auch noch ein bekennender Nazi und 107 jüdische Kinder aus dem KZ.

Wie sich die Kinder, die italienischen Fascio-Mitglieder, die Schweizer Aktivdienstler und der Nazi-Lehrer verstanden haben, ist nicht überliefert. Doch braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Spannungen von diesem möglichen Zusammentreffen ausgegangen sein dürften.

Zudem sind die jungen und zum Teil unerfahrenen Schweizer Betreuungskräfte des Schweizerischen Roten Kreuzes überfordert: Sie hatten mit Kindern gerechnet, und nun kamen junge Erwachsene. Ein Teil der Betreuenden will das Lager der Buchenwald-Kinder mit Härte und militärischem Drill führen, schliesslich steht das Rote Kreuz unter der Aufsicht der Schweizer Armee. Ein anderer Teil versucht, mit Lebensfreude, Empathie und Nachsicht den Kindern wieder Boden unter den Füssen zu geben. Da prallen auch innerhalb der Betreuenden Welten aufeinander, die sich in emotional aufgeladenen Konflikten entladen – und was in der sehenswerten Ausstellung «Gezeichnet» im Museum Burg Zug und in der TV-Serie breit zum Ausdruck kam. Ein allzu autoritär auftretender Heimleiter muss den Zugerberg verlassen, und der sehr militärisch anmutende Morgenappell wird abgeschafft.

Der nationalsozialistische «Montana-Hans» erhält genau am 14. Juli, dem Anreisetag der KZ-Kinder, den Landesverweis als «unerwünschter Ausländer»; bis am 15. August muss er ausreisen. Doch vier Tage vor Ablauf der Ausreisefrist erhebt er Rekurs gegen seine Ausweisung und kann dadurch länger in der Schweiz und auf dem Zugerberg bleiben als die KZ-Kinder.

Denn diese verlassen Ende August und Anfang September den Zugerberg und kommen zu Verwandten oder in jüdische Heime auf der ganzen Welt. Der Nazi-Lehrer muss erst im November die Schweiz verlassen und findet eine Anstellung als Lehrbeauftragter an der Universität Mainz. Dazu durchläuft er unbeschadet ein Entnazifizierungsverfahren, indem er sich mit nachweislich gelogenen Antworten reinwäscht. Sein wirkliches Wirken auf dem Zugerberg verheimlicht er. (Michael van Orsouw)

Hinweis
Dr. phil. Michael van Orsouw ist Historiker und Schriftsteller in Zug. Über die Geschichte der Zugerberg-Liegenschaften hat er vor kurzem im Fachmagazin «NZZ-Geschichte» (Nr. 27, März 2020) publiziert.