Von Musik, Macht und Geschlecht

Dies & Das, Vermittlung, Musik

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Helvetiarockt kämpft seit 15 Jahren für mehr Gleichstellung im Musikbusiness. Ganz vorne engagiert im Verein ist auch die Zuger Musikerin Muriel Rhyner.

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Zug – Dieser Artikel erschien in der September-Ausgabe 2024. Hier geht es zu den weiteren Artikeln. 

 

Es regnet nicht, es schiffet so richtig, als am 22. Juli 2024 die S‐Bahn bei der Station Chollermüli hält. Sieben Personen steigen aus mit dem gleichen Ziel, einige mit Gitarrenkoffern, die meisten recht nervös, alle mit grossen Plänen für die Woche. In der Galvanik werden sie die nächsten fünf Tage am Songwriting‐Camp von Helvetiarockt teilnehmen.
Wer Helvetiarockt bisher noch nicht begegnet ist, für den, für die wird es höchste Zeit. Denn tatsächlich feiert der schweizweit aktive Verein gerade sein 15‐jähriges Bestehen. Eingesetzt wird sich darin für mehr Frauen, inter, non‐binäre, trans und agender Menschen im Schweizer Musikbusiness. Ein niederschwelliger Zugang zur Musik wird gefördert, daneben die Vernetzung und Sensibilisierung in der professionellen Musikbranche vorangetrieben. Auch bei Politik und Behörden wird Druck gemacht und es werden finanzielle Mittel eingefordert, um die Sensibilisierung auf Gender und Diversität und auch die Prävention von sexualisierter Gewalt in der Musikbranche vorantreiben zu können. Kurse, Workshops und Vernetzungstreffen gehören dabei zum Programm.

An der eigenen Abschaffung arbeiten
Das Songwriting‐Camp in der Galvanik Zug, die der Verein für die fünf Tage komplett übernehmen und nutzen darf, fand diesen Sommer bereits zum neunten Mal statt. Geleitet wird es von Muriel Rhyner, Frontsängerin und Bassistin der Zuger Kult‐Band Delilahs. Es handelt sich bei dem Camp um ein nationales Angebot, das sich an FINTA‐Personen* ab 18 Jahren aufwärts richtet. Die regionalen Veranstaltungen und Workshops richten sich meist an die eher jüngeren Generationen.
Das Ziel von Helvetiarockt? Dass es sie schlicht und einfach nicht mehr brauche. «Wir schaffen eigentlich an unserer Selbstabschaffung», fasst Muriel Rhyner es zusammen. In Gambarogno lebt die 37‐jährige Musikerin und Komponistin heute mit ihrem Mann. Hier kümmert sie sich neben ihrer musikalischen Arbeit auch um das Regio‐Management für Helvetiarockt im Tessin. 
Zurück in der Galvanik im Juli 2024: Die anfängliche Nervosität der Teilnehmer*innen ist für Rhyner, die das Camp seit neun Jahren plant und leitet, mehr als nachvollziehbar. «Es braucht viel Mut am Anfang. Und gerade Songwriting ist eine ultra‐intime Arbeit, bei der man sich selbst und das eigene musikalische Ich erkundet, sich auch in anderen spiegelt. Da braucht es gerade zu Beginn immer etwas Raum, um den Druck rauszunehmen», so Rhyner. Neben ihr sind jeweils drei externe Coaches für die Camps engagiert, darunter diesmal auch die Zu­ger Musikerin und Komponistin Laura Livers.
Wichtig sei für die Coaches immer auch, in den fünf Tagen mehr den Prozess und nicht das Er­gebnis in den Fokus zu stellen. «Es geht darum, den Rucksack mit Werkzeug zu füllen und die Musiker*innen zu empowern.» Besonders dazu, die innere Eigenzensur und den eigenen Per­fektionismus abzulegen. So hätten die Teil­nehmer*innen auch ganze Neues ausprobiert. Eine Person habe sich zum Beispiel an Mundart herangetraut, während sie Songs vorher immer ausschliesslich auf Englisch geschrieben hatte. Muriel Rhyner betont, wie inspirierend und auch motivierend diese Camps auch für sie und die anderen Coaches seien. «Ich finde es toll, wie die jüngeren Generationen offener in ihrer Art sind, an Musik und ans Komponieren heranzugehen. Sie halten sich nicht strikt an Strophe, Refrain, Bridge, an die 3 Minuten 30, da entstehen ganz eigene, freiere Formen.»

Mehr Vorbilder und mehr Macht
Dass sie sich bei Helvetiarockt engagiert, hat für Rhyner stark damit zu tun, dass sie sich als jun­ge Musikerin oft gewünscht hätte, eine solche Organisation hätte existiert. Einerseits, da es wenige weibliche Vorbilder gegeben habe. «Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich mit 15 Jahren auf dem Musiksender MTV die erste rein weibliche Rockband The Donnas sah. Ich weiss noch, im habe fast geheult. Denn greifbare Vorbilder gab es in Europa, geschweige denn in der Schweiz, damals nicht.» Andererseits hätte sie sich auch einen Ort ge­wünscht, wo man «blöde» Fragen hätte stellen können. Eine Stelle, die man bei der Suche nach Bandräumen, Bühnen oder Studios hätte ange­hen können. «Ein Antrieb, mich zu engagieren, ist deshalb, anderen Musiker*innen dabei zu helfen, vielleicht die Fehler nicht machen zu müssen, dich ich gemacht haben, oder einen Umweg weniger gehen zu müssen.» Besonders wichtig sei ihr aber auch aufzuzeigen, welche unterschiedlichen Wege und Berufe es in der Musikbranche gibt. In der Tontechnik und im Producing sind lediglich zwei Prozent FINTA­-Per­sonen tätig. Ein solches extremes Ungleich­gewicht aufzulösen, sei ihr ein persönliches Anliegen, sagt Rhyner. «Denn gerade im Bereich Producing werden die Entscheidungen getrof­fen darüber, wer und wie produziert wird. Und diese sollten nicht nur in Männerhand liegen.» 
Zurück in der Galvanik: Nach Tagen intensivs­ten Schreibens wird bei einer Listening-Session alles gemeinsam angehört, was entstanden ist. Eine riesige Bandbreite von sphärischen, klassi­schen Gesängen, begleitet von wenigen Akkor­den, hin zu witzigen elektronischen feministi­schen Songs über PMS bis hin zu einem Mundart­-Folksong, der eigentlich gleich so, gleich jetzt im Radio laufen könnte.
Es sei eine krass intensive Woche gewesen, sagt Muriel Rhyner. Und die Teilnehmer*innen hät­ten gar nicht mehr aufhören wollen. Erst um 22 Uhr habe sie sie endlich davon überzeugen können, beim traditionellen Karaoke­-Abend zum Schluss nochmals richtig loszulassen und sich auf der Bühne auszutoben.

 

*Die Abkürzung FINTA schliesst Frauen, inter­ geschlechtliche, nonbinäre, trans und agender Personen ein.

 

Text: Jana Avanzini