Ein Dörfli wie aus dem Bilderbuch

Dies & Das

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Ganz am Rande des Kantons gelegen, weist der Weiler Niederwil ein weitgehend intaktes historisches Ortsbild auf. Die Geschichte des pittoresken Chamer Ortsteils ist vermutlich älter als diejenige vieler anderer Siedlungen.

  • Malerisch, beschaulich, intakt: der zur Gemeinde Cham gehörende Kirchweiler Niederwil. (Bild Andreas Faessler)
    Malerisch, beschaulich, intakt: der zur Gemeinde Cham gehörende Kirchweiler Niederwil. (Bild Andreas Faessler)

Cham – Der Kanton Zug und die Erhaltung von Ortsbildern – das ist so eine Sache. Während sich mancher Historiker beim Anblick der jüngsten Entwicklungen in gewissen Gemeinden des Kantons die Haare raufen dürfte, loben andere wiederum die Neubauten in Zuger Dorfzentren, denen in jüngerer Zeit ganze historische Häuserzeilen gewichen sind. Und doch findet man sie auch im Kanton Zug noch, die unverfälschten, ursprünglichen Dörfer und Weiler, welche von der wuchernden Bautätigkeit der letzten Jahre bislang verschont geblieben sind.

Eines der schönsten Beispiele finden wir in der nördlichen Gemeinde Cham, in nächster Nähe zur Zürcher Kantonsgrenze. Der Kirchweiler Niederwil weist ein grösstenteils intaktes Dorfbild auf – idyllisch, malerisch, fast wie aus der Zeit gefallen. Stattliche, dunkle Bauernhäuser und voluminöse Stallscheunen mit mächtigen Satteldächern gruppieren sich verschachtelt um den Kirchhof im Zentrum. Gepflegter Baumbestand säumt die Siedlung und grenzt sie von der umliegenden sanften Hügellandschaft mit sauber bestellten Feldern ab.

Bauliche Mischformen

Niederwil ist gelistet im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS). Hier wird der Chamer Weiler als «Idealbild eines Haufendorfes» angeführt.

Als architekturhistorisch besonders interessant taxiert ISOS den kleinen Zuger Weiler deshalb, weil seine Bebauung eine stilistische Mischform aufweist am Übergang vom voralpinen zum mittelländischen Siedlungsraum. Dies ist an den baulichen Merkmalen einiger Niederwiler Bauernhäuser ablesbar: Die vorherrschende Bauweise – in diesem Fall sogenannte Ständerkonstruktionen – wie auch die teils weit herunterreichenden Ziegeldächer finden sich im Knonauer Amt deutlich häufiger als sonst auf Zuger Boden. Die vorhandenen Klebdächer an den Fassaden hingegen sind typische Merkmale von alpinen Innerschweizer Bauernhäusern.

1241 wird die Siedlung als «Wiprechzwile» erstmals urkundlich erwähnt. Dieser Name dürfte auf ein längst ausgestorbenes, möglicherweise alemannisches Geschlecht zurückgehen, dessen Stammvater den Namen Wiprecht oder ähnlich getragen hatte. Erst ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hiess das Dorf Niederwil – später zeitweise auch «Unterwil» als Variante. Zuweilen wird kolportiert, dass Niederwil einst etwas weiter nördlich im Gebiet Dürrast gelegen haben soll, im Zuge der Reformation niedergebrannt und an heutiger Stelle neu errichtet worden ist. Das scheint jedoch wenig wahrscheinlich, zumal es dafür weder historische noch archäologische Belege gibt.

Will man eine mögliche, an einem anderen Ort gelegene Vorgängersiedlung Niederwils lokalisieren, so führen solche Spuren eher auf die östlich vom Weiler gelegene Anhöhe Äbnet, wo seit Jahrzehnten Kies abgebaut wird. Hier ist man in den 1990er-Jahren auf Überreste einer bronzezeitlichen Siedlung gestossen, welche aus archäologischer Sicht von grossem Interesse ist. Weitere Funde im Äbnet und Äbnetwald aus späteren Epochen bis ins Frühmittelalter legen dar, dass das Gebiet bei Niederwil seit der Bronzezeit wohl durchgehend besiedelt war.

Patrozinium verweist ins Frühmittelalter

Wir wenden uns wieder dem Dörfchen zu. Auffallend ist, dass es über eine ungewöhnlich grosse Kirche verfügt, ganz im Gegensatz zu vergleichbaren Zuger Weilern wie Berchtwil, Meisterswil oder auch Buonas, wo wir jeweils nur ein Kapellchen vorfinden. Niederwil war einst eine eigene Pfarrei, um 1045 wird erstmals eine Kirche erwähnt. Deren Geschichte aber reicht vermutlich noch weiter zurück – bis ins erste Jahrtausend. Konkrete Belege dafür existieren zwar nicht, doch liefert das im Frühmittelalter verbreitete Patrozinium des hl. Mauritius einen entsprechenden Hinweis. 1368 wurde Niederwil der Pfarrei Rifferswil zugehörig und unterstand dem Kloster Kappel. 1510 erwarb die Stadt Zug die Rechte an der Niederwiler Kirche, und 1514 schliesslich wurde sie Filialkirche von St.Jakob zu Cham.

Das heutige Gotteshaus mit charakteristischer Laternenhaube auf dem Glockenturm wurde in den Jahren 1846–1848 nach Plänen von Baumeister Xaver Keller aus Sarmenstorf errichtet. St.Mauritius reiht sich baulich ein in die Tradition der spätbarocken Landkirchen der Zentralschweiz. Ob die Chamer die Niederwiler Kirche in so einer stattlichen Grösse ausführen liessen, um in Sichtweite der reformierten Zürcher Gemeinden Knonau und Maschwanden ein unübersehbares katholisches Zeichen zu setzen? Immerhin war ihr Gotteshaus im Jahrhundert zuvor im Zuge des Zweiten Villmergerkrieges von den Zürchern arg verwüstet worden.

Wertvolles Bauinventar

Sehenswert sind neben der Mauritiuskirche insbesondere das mächtige Doppelbauernhaus Niederwil 10/12 und die benachbarte Kaplanei. Ferner fügen sich das Restaurant Schmiede, das Haus Stutzenmatt (Niederwil 1) und auch die ehemalige Käserei ins unversehrte Dorfbild ein.

Im Zentrum des von unverbautem Wiesland umgebenen Bauerndörfchens treffen historische Wegrouten aufeinander. Heute verläuft die nächstgelegene Hauptverkehrsachse über einen halben Kilometer Luftlinie weiter östlich. Eine gute Voraussetzung, dass Niederwil auch weiterhin seine ausgesprochen ländliche Idylle und Beschaulichkeit bewahrt. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.