Dem gemeinsamen Wahnsinn getrotzt
Film & Multimedia
Zum ersten Mal gabs ein «Tatort»-Rudelgucken im Kanton. Und dann ausgerechnet in Wiesbaden. Oder zum Glück in Wiesbaden was im Anschluss zu diskutieren war.
Zug – Der «Tatort». Die Institution für Krimigucker im deutschsprachigen Raum. Für die vermutlich 90 Prozent, die gespannt einfach mal entspannen wollen, und für die wohl 10 Prozent, die einen Kunstgenuss erwarten ein Fünf-Gang-Menü fürs Gehirn. Vergangenen Sonntag wurde ganz klar das Fünf-Gang-Menü serviert, da gab es keine Gnade und kein Entkommen zur Currywurst von Ballauf und Schenk oder zu den Wutanfällen von Peter Faber. Kein Köln und kein Dortmund – nein, Wiesbaden war an der Reihe. Die Schauspielstars Ulrich Tukur und Ulrich Matthes hatten ihren Auftritt, das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks verschaffte sich Gehör, und das eingespielte Duo Florian Schwarz (Regie) und Michael Proehl (Buch) sammelte 90 Minuten lang Fleissbildchen für einen Zitate-Marathon de luxe. Ein ganzes Album liesse sich mit diesen Fleissbildchen füllen – bereits im Sommer wurde dem ««Tatort» mit dem Titel «Im Schmerz geboren» der Produzentenpreis des Münchner Filmfests zugedacht – unter anderem für seine «erzählerische Eleganz».
Gute Kritiken
Las man gestern die Kritiken, stiess man fast ausschliesslich auf Lobeshymnen, nur die «Berliner Zeitung» sprach von einer Albernheit. Die «Tatort»-Fans alle plötzlich Besseresser? «Chez Nussbaumer» in der Pilatusstrasse 2 in Zug haben sich Sonntagabend rund ein Dutzend Rudelgucker zum gemeinsamen Genuss eingefunden. Lässige Liegestühle versprechen einen bequemen Blick auf die Leinwand an der vorderen Front der ehemaligen Werkstatt. «Das passende Setting für diesen bühnenreifen ‹Tatort›», wird Zuschauer Fabian Schmid nach dem Krimi sagen. Doch zunächst einmal herrscht konzentrierte Stille, ab und zu ein anerkennendes Lachen oder ein «skurril», mit Humor in der Stimme ins Halbdunkel gesprochen. 90 Prozent der Rudelgucker «Chez Nussbaumer» sind sich nach diesem «Gewaltakt von Kunstkrimi» (so «Spiegel online») einig: Dieser «Tatort» aus Hessen war klasse. Nur die Autorin dieser Zeilen fand ihn weniger unterhaltsam als vielmehr anstrengend. 90 Minuten lang Kopfzerbrechen: Wer wird jetzt Herrgott nochmal gerade zitiert? Shakespeare oder Tarantino, Truffaut oder Leone? Und was spielt dieses Sinfonieorchester schon wieder? Bach oder Vivaldi, Verdi oder Beethoven? Und kann dieser Tukur eigentlich auch noch was anderes als skeptisch lächeln?
«Zu viel Kunst»
Dass die Verwirrung gross ist, nehmen die Rudelgucker in Zug ganz locker. Sind sich doch nicht einmal die Experten einig: Während man bei «Spiegel online» zu Beginn des «Tatort» Fred Zinnemanns Westernklassiker «High Noon» zitiert sieht, fühlen sich andere Kritiker genau da an Sergio Leones «Once Upon a Time in the West» erinnert. Sei es drum. Organisator Beat Holdener bekundet, während er an der Bar steht und seinen Gästen Wein einschenkt: «Am Anfang dachte ich zu viel Kunst. Am Ende war ich der Ansicht – diese absurde Mischung geht doch auf.»
Fabian Schmid lobt die «genialen Bilder, die schönen Bilder». Natürlich: «Dieser ‹Tatort› war ironisch bis zum Gehtnichtmehr.» Er lacht: «47 Leichen. Hätte man da bei jeder einen Shot ausgeschenkt, wie anderswo üblich, dann Prost.» Remo Hegglin bringt seine Kritik in folgende Form: «Herrlich überspitzt, schön überzeichnet, blutig und mutig.» Rico Furter, 19 Jahre jung, schaut gewöhnlich keinen «Tatort», findet aber das gemeinsame Rudelgucken eine schöne Idee und das Projekt der kulturellen Zwischennutzung «Chez Nussbaumer» einfach super. (Susanne Holz)
Hinweis«Tatort»-Rudelgucken an der Zuger Pilatusstrasse 2 nochmals am 19. und am 26. Oktober. Am 26. Oktober mit dabei: Gerichtsmediziner und Kantonsarzt Dr. Rudolf Hauri.