«Heimat» ist auch Klang – viel mehr als wir bewusst wissen
Film & Multimedia, Musik
«Heimat? Eine Hommage an den Klang, der uns umgibt» ist ein experimentelles, multimediales Bild-Ton-Projekt der Zuger Pianistin Judith Wegmann in Zusammenarbeit mit vier Künstlern aus den Bereichen Komposition, Musikimprovisation und Videokunst.
Zug – In der Gewürzmühle ist es dunkel, nur ein paar Lichtquellen wärmen den Raum optisch. Links steht Judith Wegmanns grosser Flügel, rechts eine Batterie perkussiver Instrumente: Vibrafon, Djembe, Pauke und Trommeln, hängende Kuhglocken und Flaschen, vielerlei Schlägel und ein Geigenbogen. Neben dem Flügel ein Mischpult. Dazwischen Stühle und ein rotes Sofa für das Publikum. Das rund 70-minütige interdisziplinäre Experiment beginnt mit leisen Klavier-Tropfen, die unter den Fingern der Pianistin die Stille strukturieren und die Sinne öffnen. Dann führt der Schlagzeuger Jens Ruland einen Geigenbogen sachte über die Tasten des Vibrafons: Langgezogene hohe Töne hängen sich zwischen die Klavierperlen.
Auf der Wand vor den Zuschauern erscheinen schwarz-weisse melancholische Bilder, die wie Fotos aus den Alben unserer Grosseltern ferne Geschichten zu erzählen scheinen: Rangiergleise eines grossen Bahnhofs, ein Kellerfenster, steinerne Frauenköpfe an der Front eines Patrizierhauses, efeubewachsene Mauern, später eine weisse Pfingstrose oder Kamelie, sprunghaft vervielfacht. Am Mischpult sitzend, synchronisiert der Berner Klangkünstler Matthias Müller Geräusche dazu: Möwengeschrei, ein hupendes Ambulanzhorn. Eine Schrift erscheint und spricht das intellektuelle Verstehen an: «Heimat ist, wo Klänge vertraut sind.» Und etwas später: «Klänge, die wir mit Heimat verbinden, sind nicht greifbar, aber sie berühren uns unmittelbar – sie schaffen einen Raum, in dem wir uns aufgehoben fühlen können.»
Was hören wir, was nicht?
Das Multimedia-Projekt «Heimat? Eine Hommage an den Klang, der uns umgibt» wurde zu fünft entwickelt. Nebst dem Ensemble New2Art+ (Jens Ruland, Schlagzeug, und Judith Wegmann, Piano) und Matthias Müller waren dies der französische Komponist Philippe Festou und der deutsche Multimedia-Künstler Nicolas Wiese. Wie hört sich «Heimat» an? Ist es ein Ort, ein Gefühl oder eine Erinnerung? Um diese Fragen geht es. Die Geräuschkulissen der modernen Stadt, organische und synthetische Klänge verschmelzen mit visuellen Elementen zu einer poetisch-nachdenklichen Erzählung.
Philippe Festou hat den musikalischen Ablauf sekundengenau komponiert. Den zuhörenden Laien wird dies nicht bewusst – sie versinken atmosphärisch in der Ton-Bild-Collage. Judith Wegmanns Noten auf dem Flügel aber zeigen es: Das zwölfteilige Stück ist eine minutiös geplante Konstruktion aus akustischen Eindrücken unterschiedlicher Geografien – «Milan, Cathédrale» steht da etwa, oder «Rues de Lugano». Dreimal sind improvisative Phasen eingebaut. Die Musik ist dynamisch durchgetaktet – zwischen grosser Stille und eigentlichen Tongewittern. Auch die von Nicolas Wiese gestaltete Visualität funktioniert nach fast musikalischen Prinzipien: Einerseits Fotos, die über-, aus- und wieder eingeblendet werden; andererseits zwischengeschaltete Grafiken, die diese überlagern oder ersetzen; gelegentlich auch ein Spiel mit Buchstaben, beispielsweise mit dem Wort «Be-Longing». Wiederholung und Variation, Längen und Kürzen, Pausen und Rhythmusänderungen prägen das Kommen und Gehen der Bilder. Vernebelung, Unschärfe, verschwimmende Baum-Laub-Wasser-Eindrücke gesellen sich dazu. Dann Häusertrümmer, Müll, Baggerschaufeln. Und immer wieder – insistierend – ein undeutliches Foto mit eilenden Gestalten im grünen Niemandsland: Sind es Flüchtende, Heimatlose? «Was passiert mit Heimat, wenn sie verschwimmt, verwischt, relativ wird?», fragt die weisse Schrift gegen Ende. Die Klanghommage erinnert daran, dass «Klänge mehr als Geräusche sind, sie sind Geschichte, Identität und Trost». Klangwelt sei ein Dialog «zwischen dem, was wir hören, und dem, was wir überhören».
Und der heutige Mensch eingespannt in ein Geflecht aus natürlichen, technologischen, urbanen und digitalen Klängen, die auch zu Reizüberflutung und Entfremdung beitragen können. «Die Klangwelt von heute fordert uns auf, innezuhalten und zu fragen: Welche Klänge wollen wir hören – welche erschaffen – und welche bewahren?»
Hinweis
Weitere Infos zu «Heimat? Eine Hommage an den Klang, der uns umgibt»: www.judithwegmann.ch
(Text: Dorotea Bitterli)