«Niedergelassene haben Grosses bewirkt»
Brauchtum & Geschichte
Der Historiker Thomas Fähndrich thematisierte das Zusammenleben von Alteingesessenen und Zugezogenen in Cham im 19. Jahrhundert.
Cham – In wenigen schweizerischen Gemeinden dürfte der private Zugang zu authentischen Zeitdokumenten und minutiös aufbereitetem Fachwissen über die eigene Dorfhistorie so niederschwellig sein wie in Cham. Die Online-Enzyklopädie «Chamapedia», die seit dem Jahr 2019 über einen Trägerverein verfügt, wird von der Bevölkerung rege genutzt.
«Ich stosse bei Recherchen für dieses faszinierende Geschichtslexikon immer wieder auf interessante Themenkomplexe. Auch die heutige Führung geht auf eigene Nachforschungen zurück», sagte Thomas Fähndrich, Historiker und Mitglied der Redaktionskommission von Chamapedia, am Samstag. Allmählich bildete sich vor der Chamer Bibliothek inmitten von regem Markttreiben eine Menschentraube geschichtsaffiner Zuhörender um ihn herum.
Schwerpunkt der folgenden Führung war das Spannungsfeld zwischen den Chamer «Vollblutbürgern» und den «Niedergelassenen» im 19. Jahrhundert, als die Gemeinde wegen der Industrialisierung eine grosse Zuwanderung erlebte und sich die Bevölkerung innert 40 Jahren verdoppelte. Dabei handelt es sich um ein Thema, das nichts an Aktualität eingebüsst hat.
Cham Tourismus bietet das ganze Jahr über öffentliche Dorftouren und Rundgänge an. «Diese stehen jeweils im Be- zug zu historischen, kulturellen oder naturbezogenen Themen und bieten den Teilnehmenden die Möglichkeit, die eigene Gemeinde noch besser kennenzulernen», erläuterte Sara Hübscher, Präsidentin von Cham Tourismus.
Lange waren die Chamer Untertanen
Zu Beginn versammelten sich die aufmerksam lauschenden Anwesenden vor der katholischen Kirche St. Jakob, wo Fähndrich vorerst zur Geschichte der Eidgenossenschaft referierte: «Die romantische Vorstellung einer freien Schweiz seit dem Bundesbrief im Jahr 1291 ist eine Illusion», hob er an und führte dann aus: «Die Bewohner des Gebietes in und um Cham wurden seit dem 14. Jahrhundert von der Stadt Zug als Untertanen beherrscht. Cham und die übrigen Untertanengebiete wurden am 17. Februar 1798 davon befreit.»
In der Zeit nach dem Sonderbundskrieg habe das «Nest» Cham im Vergleich zu anderen Zuger Ortschaften als sechstgrösste Gemeinde nur wenig zu bieten gehabt, so Fähndrich: «Cham zählte anlässlich der Volkszählung 1850 nur 1322 Einwohnende, wobei die wachstumsstarke Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen den grössten Anteil ausmachte.»
Nach dem Anschluss ans Bahnnetz und der Eröffnung dreier Industriebetriebe sei Cham innert 40 Jahren aus allen Nähten geplatzt, referierte der Historiker weiter: «Die enorme Zuwanderung führte aber zunehmend zu gesellschaftlichen Spannungen – im Jahr 1880 wohnten hier auf einen Einheimischen gerechnet 4,2 Niedergelassene.»
Zugezogene durften nicht abstimmen
Die in der Bundesverfassung von 1848 festgeschriebenen politischen Grundrechte seien den Neuzuzügern vorerst verwehrt geblieben, so Fähndrich: «Ein zugezogener Aargauer durfte damals in Cham und in den übrigen Zuger Gemeinden nicht abstimmen.» Dies änderte sich erst 1874.
Die alteingesessenen Chamer Bürger betrachteten ihre neuen Nachbarn argwöhnisch, bezeichneten sich selbst als «Vollblutbürger» und die Zugezogenen etwas despektierlich als «Niedergelassene», die sich in ihr «Paradies» eingeschlichen haben. Abschliessend konstatierte Thomas Fähndrich dezidiert: «Zugezogene hatten damals im Dorf einen schweren Stand. Aus heutiger Sicht muss ihre Leistung als Arbeitgeber und Gründer verschiedener Chamer Vereine gewürdigt werden. Sogenann-te Niedergelassene haben in Cham Grosses bewirkt.» (Text: Nils Rogenmoser)
