Zwischen Klassik und Avantgarde

Musik

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Judith Wegmann erhielt letzte Woche das mit 50 000 Franken dotierte Zuger Werkjahr. Wer ist diese Frau?

  • Judith Wegmann ist eine Grenzgängerin. (Bild Stefan Kaiser)
    Judith Wegmann ist eine Grenzgängerin. (Bild Stefan Kaiser)

Zug – Sie zieht hastig an ihrer Zigarette, schaut auf die Uhr. Ja, sie ist pünktlich. Auf die Minute. Und das, obschon ihr Tag bis auf die letzte Sekunde durchgetaktet ist – Judith Wegmann ist nicht nur als Pianistin gefragt: Sie unterrichtet in Oberägeri, sie konzipiert, performt und steht ständig unter Strom. Die Preisträgerin erscheint zum Interview ganz in Schwarz, diese Nicht-Farbe, die so praktisch ist, die alles verzeiht und mittlerweile zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Dazu wenig Make-up; lediglich der Lidschatten wirkt etwas dominant und wurde von der Künstlerin passend zur eigenen Augenfarbe aufgetragen.

«Du hast vor fünf Jahren einmal etwas über mich geschrieben, du warst krank und hattest Fieber», erinnert sich Wegmann bei der Begrüssung. «Ich vergesse praktisch nie ein Gesicht», erklärt sie. «Ich kann im Zug in einem Abteil sitzen und kann mir auch Jahre später noch jede Person, die ich gesehen habe, visualisieren.»

Ansprachen sind nicht ihre Leidenschaft

Die Szenerie spielt sich vor dem Kulturzentrum Galvanik in Zug ab; jenem Ort, an dem Judith Wegmann am selben Abend das Zuger Werkjahr, den mit 50 000 Franken dotierten Hauptpreis des Kantons erhalten werden wird. Der Herbst zeigt sich von seiner garstigen Seite, gut, hat die Galvanik bereits geöffnet. Noch ist es leer drinnen – das Barpersonal rüstet sich für den Ansturm. Judith Wegmann setzt sich auf einen der Barhocker, nestelt an irgendeinem Bändel herum. Geplant ist für den Abend später eine kurze Dankesrede. Vielleicht zwei, drei Sätze. Die Frau, die mit ihrer Musik berührt, die Frau, die experimentell 24 Stunden ohne Schlaf vor Publikum durchgespielt hat («Ich wollte wissen, wo meine Grenzen sind»), die Frau, die ganz grosse Töne auf dem Klavier spielt, diese Frau ist nervös, weil sie vor gut 70 Leuten eine kleine Rede halten soll?

Der Fotograf unserer Zeitung erscheint, er soll die gebürtige Zugerin ins rechte Licht rücken. Auch dies ist ihr unangenehm. Sie möge es nicht besonders, fotografiert zu werden und hofft, man könne stattdessen ein Pressebild verwenden. Kann man nicht. Das Zeitfenster für Gespräch und Foto ist knapp, es wird hektisch. Nicht gut für eine Person wie Judith Wegmann, die findet, dass sich die Welt zu schnell dreht. Vielleicht lenkt die nächste Frage von Gewusel rund um die Preisträgerin etwas ab: Was denn für kommende Projekte geplant seien. Es scheint zu funktionieren, denn Judith Wegmann muss keinen Moment lang überlegen. «Ich habe so viele Projekte. Während der Pandemie habe ich fünf Tonträger eingespielt, die werden jetzt nach und nach erscheinen und die möchte ich promoten. Dann starte ich eine Tournee im Rahmen der Gruppe New3Art.» Sie zählt noch weitere Projekte auf, es sind viele. Sie tut dies begeistert, enthusiastisch und strahlt.

Schon wenige Wochen ohne Musik schmerzen sie

Der Fotograf drückt im richtigen Moment ab, die Künstlerin scheint es nicht zu bemerken. Redet sie von ihrer Musik, blüht sie auf. Ohne Musik würde sie nicht leben können. «Ich habe versucht, zwei Monate ohne Klavier zu sein. Es ging nicht. Es war furchtbar. Es hat mir regelrecht wehgetan.» Warum macht man so etwas? Vielleicht, weil Judith Wegmann eine Grenzgängerin ist. Aber keine Aussenseiterin. «Ich habe mit fünf Jahren begonnen, Klavier zu spielen. Meine Kameraden sahen in mir aber nie einen ‹Nerd›, sondern fragten, ob ich ihnen was vorspielen könne.» Judith Wegmann bewegt sich musikalisch zwischen (traditioneller) Klassik, moderner Klassik, Freejazz; aber auch zeitgenössische Musik findet sich in ihrem Repertoire – und gerne wird improvisiert.

Das letzte Foto ist gemacht, die ersten Gäste treffen ein. Was wird sie mit dem Betrag von 50000 Franken machen? «Alles bereits verplant», sagt Judith Wegmann. «Ich versuche, mit diesem Geld selbst aktiv die Schweizer Szene zu unterstützen. Etwa, in dem ich bezahlte Kompositionsaufträge vergebe.» Jemand steuert direkt auf die Gewinnerin zu, flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie nickt. Es ist Zeit für ihren grossen Auftritt. Sie wird auch das souverän meistern. Und sich ziemlich sicher ein Leben lang an diesen Abend erinnern. (Haymo Empl)