Als der Sturm durch Neuägeri zog

Kunst & Baukultur, Brauchtum & Geschichte

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Dörfer im Wandel: Eine Aufnahme aus dem Jahre 1934 zeigt zwei Häuser, im Vordergrund Schutt. Sie zeugt vom Jahrhundertunwetter.

  • Das Schmidtli nach dem Jahrhundertunwetter von 1934. (Bild ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)
    Das Schmidtli nach dem Jahrhundertunwetter von 1934. (Bild ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)
  • Dieselbe Perspektive fast 90 Jahre später. (Bild Matthias Jurt)
    Dieselbe Perspektive fast 90 Jahre später. (Bild Matthias Jurt)

Neuägeri – Eugen «Geni» Häusler steht in Neuägeri an der Zugerstrasse, dort, wo die Allenwinden- und die Erlibachstrasse in sie einzweigen. Er schaut gegen Süden. Um ihn herum sind die Hügel mit vereistem Schnee bedeckt, unter ihm fliesst die Lorze nordwärts Richtung Zugersee. Sie führt kaum Wasser. Häusler ist vieles – Kaufmann, Mechaniker, Lehrer, Kontrabassist – vor allem aber ist er durch und durch Unterägerer. Wenn einer die Region kennt, ist es er. Als Dorfführer versteht es der 73-Jährige, Geschichten zu erzählen, die so weit als in die 1860er-Jahre zurückdatieren.

Häusler hält das Schwarz-Weiss-Foto mit ausgestrecktem Arm in der Hand und betrachtet es durch seine Lesebrille. Einem Laien wäre es schwergefallen, die Perspektive zu finden, aus welcher das Foto geschossen wurde. An dieser Strassenverzweigung in Neuägeri erinnert nichts mehr an das, was vor fast 90 Jahren auf dem Foto festgehalten wurde.

Links im Bild ist ein grosses Haus zu sehen, das ehemalige Gasthaus Schmidtli. Gegenüber steht eine Scheune. Die Strasse, welche zwischen den Gebäuden durchführt, ist die heutige Zugerstrasse. «Von den beiden Häusern siehst du gar nichts mehr. Dort, wo jetzt dieser Baum steht, stand damals das Schmidtli», sagt Häusler und zeigt links auf einen Ahorn. Er befindet sich auf dem schneebedeckten Rasen zwischen Lorze und Bus­haltestelle. Das Schmidtli be­herbergte damals nebst dem Gasthaus eine Schmiede im Erdgeschoss. Daher wohl der Name. «Man kann sich kaum vorstellen, dass auf dieser kleinen Fläche mal ein so grosses Haus gestanden hat, stimmt’s?» Mittlerweile befindet sich, etwa 50 Meter Luftlinie entfernt auf der anderen Seite der Kreuzung, eingebettet in eine Tankstelle und eine Autogarage, das neue Restaurant Schmidtli. Italienische Küche. «Dort stand früher eine grosse Sägerei. Und da, schau, da hab ich noch was.» Häusler kramt ein zweites Foto hervor, ebenfalls schwarz-weiss. Darauf ist ein Tram zu sehen, das die Zugerstrasse in Neuägeri hinabfährt.

«Ein grauenvolles Bild der Verwüstung»

«Hier ist damals, als dieses Foto aufgenommen wurde», er deutet auf die ursprüngliche Aufnahme, «noch das Ägeritram durchgefahren.» Das bezeugen die Tramleitungsmasten, welche die Strasse säumen. Das Ägeritram verband ab 1913 den Bahnhof Zug mit Oberägeri. Nach über 40 Betriebsjahren musste es Mitte der 1950er-Jahre allerdings dem Linienbus weichen.

Mehr als die Trammasten fällt auf der ursprünglichen Aufnahme aber etwas anderes auf: die Verwüstung. Das Foto wurde im September 1934 aufgenommen, am Tag nach dem Jahrhundertunwetter. «Die furchtbarste Katastrophe, die das Ägerital je betroffen hat», steht im zweibändigen Werk «Ägerital – seine Geschichte» von Renato Morosoli dazu geschrieben. In Neuägeri habe sich die Lorze gestaut und die ganze Talsohle überflutet. Sie «zerstörte die Wasserbauten der Spinnerei Neuägeri, füllte die Fabrik mit Schlamm und überflutete in ihrem Unterlauf die Ebene zwischen Zug und Baar». Es habe sich «ein grauenvolles Bild der Verwüstung» gezeigt: «Überall Schuttmassen, Baumstämme, Bretter, Überreste von Brücken und wogende Wassermassen.» Menschen sind im Hochwasser von 1934 keine gestorben, aber wohl viele Tiere.

In der Aufnahme floss die Lorze vom Wehr auf der linken Seite herkommend direkt vor dem Gasthaus vorbei. Dort muss sie über ihr Flussbett hinausgestiegen sein. Und das mit einer ungeheuren Kraft: Sogar das Eisengeländer der damaligen Brücke vermochten die Wassermassen zum Erliegen zu bringen. Mittlerweile wurde das Flussbett begradigt. Die Lorze fliesst von Betonmauern eingefasst beinahe unbemerkt unter der Strassenverzweigung durch. (Linda Leuenberger)

Hinweis
In dieser Serie stellen wir Dorfansichten aus Zuger Gemeinden und ihren Wandel über die Zeit vor.