Rosine und Sultanine

Kunst & Baukultur, Literatur & Gesellschaft, Brauchtum & Geschichte

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Nach dem Crashkurs im Geschichten­erzählen: Bühne frei für Rosine und Sultanine. Eine haarsträubende Geschichte der Transformation.

  • Rosine und Sultanine erleben ein Abenteuer. Illustration: Brigitt Andermatt.
    Rosine und Sultanine erleben ein Abenteuer. Illustration: Brigitt Andermatt.
Zug (Kanton) – Diese Geschichte ist in der Mai-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Rosine erwachte ziemlich verschrumpelt. Was war bloss geschehen? Es brummte in ihrem Kopf, sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie konnte sich nicht  bewegen. Über Nacht hatte sie ihren ganzen Saft verloren. Sie versuchte hin und her zu rollen, spürte aber mit jedem Versuch, ihre Position zu ändern, Widerstand. So wie sie da lag, war es ihr in keiner Weise möglich, auch nur einen Millimeter zu rutschen. ­Rosine fühlte sich kraftlos und ausgetrocknet. Neben ihr lag ihre etwas grössere Cousine Sultanine und schlief den Schlaf der Gerechten. Sultanines Haut war heller und seidenweich, zart-glänzend. Aber jetzt sah sie ganz anders aus. Statt wie sonst  kernig und prall gefüllt, war sie ein Schatten ihrer selbst. Klar, auch sie haderte manchmal damit, dass sie zu dick sei. Aber eine Sultanine muss etwas praller sein, das bedingt ihre Herkunft. Und nun das! Sie, die stets darauf bedacht war, perfekt auszusehen, sah aus wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen war. Ihre sonst glatte und seidig schimmernde Oberfläche war stark gealtert und hatte dieselbe Wandlung durchgemacht wie ihre eigene. Und nun lagen sie beide da: unbeweglich und steif. Zwei runzlige, halb vertrocknete und klebrige Klümpchen.  

Wach auf!
Es roch leicht schweflig und die Luft war schwer. Rosine versuchte sich nochmals umzudrehen, rief ihrer Cousine mit leicht piepsig-heiserer zu Stimme: «Sultanine, wach auf, schau, wo wir sind!» Sultanine hörte sie nicht. Abermals versuchte sie ihren Körper zu drehen, dieser wollte aber ihrem Kopf nicht gehorchen. Immer wieder versuchte sie es mit Wippen und Schaukeln, um mehr Schwung zu bekommen, so hoffte sie, dass es dann endlich klappen würde.  

Bloss nicht aufgeben
«Ich versuche es einfach weiter», dachte sie. «Bloss nicht aufgeben! Rosine, so schnell gibt man nicht auf!», machte sie sich Mut. Es kostete sie sehr viel Kraft, sie musste sich enorm anstrengen. «Ho-ruck, ho-ruck!» Mit einem lauten Plop landete sie unvermittelt vornüber auf dem Bauch. «Ha, das wäre mal geschafft», dachte sie.
Was Rosine nun sah, liess ihr Innerstes fast noch mehr eintrocknen. Da lagen Hunderte, nein, Tausende Rosinen und Sultaninen auf riesengrossen Regalplatten. Alle hatten sie verdellte und zerfurchte Körper. Kurios schaute das aus. Aneinandergereiht wie die Terrakotta-Armee des chinesischen Kaisers. Sie hatten wohl alle c dieselbe Verwandlung durchgemacht. Noch tags zuvor hatten sie in Trauben an den Ästen gehangen. Fest, reif und saftstrotzend. Und nun hatte man sie auseinandergerissen, sortiert und gewaschen. Die feinen Äste, an denen sie im Bunde hingen, waren zerschnitten worden. Die Blätter, die sie vor den Launen der Natur wie Hagel oder Frost schützten, waren ihnen weggerissen worden. Dann machten sie sogar ihre erste Flugerfahrung. Was für ein Gefühl! Herrlich, so unbeschwerlich leicht wurden die kugelrunden Beeren durch die Luft gewirbelt und sich hundertfach drehend landeten sie im steilen Sturzflug in einem riesigen Behälter. Daran konnte sie sich noch erinnern. Die Landung war sanft gewesen und Rosine war von ihren Artgenossen gut abgefedert worden, die bereits in diesem Bottich lagen.  

Ab auf die Achterbahn
Rosine fühlte sich noch immer ganz benommen von dieser ziemlich abenteuerlichen Reise. Zu gerne hätte sie doch gewusst, wo denn ihre Verwandten von derselben Traube hingebettet worden waren. Doch nun holte sie die Müdigkeit ein, halb benommen schlummerte sie wieder ein.  
Allerdings wurde sie schon bald unsanft aus ihrem  Dämmerzustand geholt. Denn jetzt ging die Reise weiter. Ein grosser Rechen fasste sie und in einem Wisch wurde sie mit den anderen  auf ein Förderband gefegt. Da schüttelte und ruckte es in einem fort. Sultanine war verschwunden, einfach weg. Es lagen aber andere, entfernte Verwandte, auf demselben Förderband. Das Band wurde schneller und immer wieder griffen rechenartige Arme aufs Band, schoben und stiessen diejenigen weg, die nicht fertig getrocknet waren. Jetzt zischte ein langer Rechen nach vorne und wischte die mittlerweile komplett getrocknete Rosine auf eine andere Ebene. Diese Maschine lief noch schneller als jene zuvor. Wieder wurde sie mit weiteren Rosinen zusammen gerüttelt. Sie wollte davonrollen, dazu war sie aber längst nicht mehr in der Lage. Also blieb sie liegen, sie hatte ja auch keine andere Wahl. Erneut wurde gedrängt und gehoben, bis sie schliesslich auf einer weiteren Unterlage lag, die sich langsam senkte.
Sie kam ins Rutschen und wurde zu einem rasenden Geschoss, bis sie über einen Abhang ­hinunter, vergleichbar mit einem Wasserfall, in einem grossen Teich landete. Sie sank tief in eine flauschige Masse ein. Diese Masse, die sie umschlang, roch süsslich und es fühlte sich weich und sanft an. Wie in einem übergrossen Daunenkissen kuschelte sie sich ein. Liess sich genüsslich massieren und kneten und es wurde ihr wohlig warm dabei, bis sie sanft einschlief. Als sie wieder erwachte lag sie in einem flauschig wolkigen Umhang aus Panettone. Neben ihr lag süsslich verkümmert ihre liebe Cousine Sultanine, die noch immer schlief und von alldem nichts mitbekommen hatte.  


Illustratorin und Erzählerin

Brigitt Andermatt arbeitet als freie Illustratorin und Künstlerin und mag diese Ostern ­weder Rosinen noch Sultaninen essen – sie zeichnet sie lieber. Die Baarer Geschichtenerzählerin, Veranstalterin und Autorin Maria Greco schreibt für ihre literarischen Programme, wie die «Dada-Soirée», immer wieder Kurzgeschichten und andere Texte.  Sie kennt sich in der Zuger Sagenlandschaft bestens aus.
www.brigittandermatt.ch
www.mariagreco.ch